Abgabe

Montag. Letzter Durchgang durch das komplette Manuskript. Am 30. Januar ist Abgabe. Wann tritt eigentlich mal der Zustand ein, dass du dich zufrieden zurücklehnst und nichts mehr an deinen Sätzen schrauben, verschieben, streichen, optimieren willst? Gibt es den überhaupt, oder widerspricht er dem künstlerischen Prinzip der permanenten Selbstkritik?

Beim MoBi bei Claus beschließen wir, alle zusammen im Frühjahr zu Lisa Eckhart zu gehen. PM sieht sie schon morgen, in Koblenz. Bin ein bisschen neidisch, muss aber morgen arbeiten.

Die Ästhetik des Widerstands

Sonntag. Mit zugewandten, interessanten und interessierten Menschen zusammenkommen – ich lechze nach Input, nach lebendigem Austausch, Gedankenexperimenten, Höhenflügen, Visionen. Nach Menschen, die vorbehaltlos mit mir was anfangen können (ohne: Ach, du bist aus dem Westen?) und ich mit ihnen. Und plötzlich finde ich mich genau unter solchen Menschen wieder. Was eben aus so einer Einladung zum Gänsebratenessen in einen Landgasthof im Westerwald werden kann.
Die Gruppe trifft sich schon seit mehreren Jahren, und jetzt gehören wir, PM und ich, auch dazu. Einfach so. Ohne Anstrengung, ohne Aufregung.
Ich werde mich an dieser Stelle nie mehr über ein marodes, menschenfeindliches Schulsystem auskotzen. Denn ich weiß seit gestern, dass ich in allen meinen Wahrnehmungen richtig liege. Und dass sich nichts ändern wird. Die Gründer einer Lehrerfortbildungsstätte sind auch da, sie hören mir zu, ordnen meine Erfahrungen ein, ziehen eine ziemlich bittere Bilanz. Die in den frühen 2000er-Jahren erfolgreiche und ergebnisorientierte Einrichtung ist nach ihrem Weggang zu einem Rumpf verkommen, der den Schulen und Behörden nicht länger auf die Füße tritt. Im Gegenzug wollen die auch nichts mehr, entwickeln sich zurück zu dem repressiven, Menschen vergeudenden  (jede Menge Schulabbrecher!) Schrei- und Strafsystem, wie ich es kennengelernt habe. Keiner will was vom anderen und bloß keine Reformen! Wer die Ruhe stört, wer Erwartungen weckt, wird geghostet. Jetzt kann ich dieses Verhalten zuordnen.
„Versuche nie die bestehenden Normen zu ändern“, hat mich vor einem Jahr eine kluge Frau gewarnt, die von außerhalb kam und sofort die Strukturen erfasst hatte.
Peter Weiss hat den Begriff von der Ästhetik des Widerstands geprägt. Arbeiten an meinem bescheidenen Platz, so gut wie ich es kann, auch mal etwas mehr als die reine Unterrichtszeit investieren, SuS ernst nehmen und ihre Menschenwürde achten – das ist meine sehr ästhetische Form des Widerstandes.
Beim Frühstück, bevor alle wieder nach Hause fahren, werden Daten ausgetauscht und gegenseitige Einladungen ausgesprochen. Ich bin dabei.

Zeichen und Buchstaben

Montag. Zwischen meine eigenen Buchprojekte schiebe ich das Projekt „Junge Texte aus Eisenach“: Mein Herzensding. Ich möchte, dass meine Jungautor*innen ihre gedruckten Texte in der Hand halten und im besten Fall öffentlich vorlesen. Diese Anerkennung haben sie, haben ihre Arbeiten verdient.
Übers WE habe ich alle infrage kommenden Texte der vergangenen zwei Jahre redigiert und digitalisiert, was die Jugendlichen aus irgendwelchen Gründen nicht hinbekommen. Können auf ihren Konsolen daddeln und mit beiden Daumen das Handy wie die Weltmeister bearbeiten, aber keine zusammenhängenden Texte schreiben. 40 Seiten sind es bis jetzt, und ich liebe jede einzelne dieser kleinen Textperlen. Sehe die Person dahinter, sehe die Situation, in der sie entstanden sind, sehe das Eigene & Persönliche, das zwischen den Zeilen blitzt.
Ich freue mich darauf, wenn es fertig ist. Die Mädels und Jungs auch. Und als ich Christiane H. davon erzähle, bietet sie mir an, das gesamte Layout zu machen, kostenlos! Ich bin so dankbar und froh, dass mir gar nichts zu sagen einfällt. Sie wird es wunderbar machen, wie sie alles wunderbar macht.
Auch das Cover für mein neues Buch hat sie wieder entworfen. Meine Meinung: es ist das schönste Buchcover der Welt (fand ich bei Lass uns über den Tod reden auch schon). Bunt und zuversichtlich wie der Titel, aber nicht flach. Jedes Wort korreliert mit dem grafischen Element im Hintergrund, das ist von einer klaren, intellektuellen Schönheit. C.H. besitzt ein Wahnsinnsgespür für Formen und Farben und eine große Sorgfalt. Entsprechend positiv hat der Verlag den Entwurf aufgenommen, GsD. Eine Win-Win-Situation in jede Richtung.

Abi Wallenstein & Co

Samstag. Die legendären Abi Wallenstein & BluesCulture spielen in der Alten Mälzerei auf. Vor zwei Wochen waren Jürgen Kerth und die Bluesrockband Kurz und Lang im Schlachthof. Letztere heizten mit Interpretationen von Muddy Waters, Canned Heat und Joe Cocker ein. Schöne Abende in schöner Location mit tollen Menschen, jedes Mal ein echter Genuss. Die vielfältige Eisenacher Musikszene überrascht mich immer wieder. Es liegt an dem Engagement von Einzelnen, die diese Größen herholen, und die Veranstaltungen sind meistens ausverkauft.
Der raue Charme solcher Abende lässt mich wieder ein wenig zu mir kommen. 

Im Spiegel

Mittwoch, Buß- und Bettag. Der Traum der Menschheit, lästige und fremdbestimmte Arbeit an Maschinen abzugeben, verkehrt sich gegen die Menschheit selbst: KI übernimmt – im Zuge mit vielen anderen – auch genau jene uralten, uns als Menschen wesensmäßig determinierenden, ureigensten Tätigkeiten, die uns statt belasten doch er-füllen. Die uns auf uns selbst besinnen und kreativ werden lassen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind: Die KI malt, komponiert und dichtet.

Auf Tastenklick generierte Texte in der Manier von Shakespeare, Goethe etc. sind gefälliger, glatter als die Originale der Eigendenker. Sie sind frei von Widersprüchen und komplexen Sprüngen. Das aber genau ist der menschliche Geist: komplex, widersprüchlich, assoziativ. Und manchmal sperrig, weshalb wir uns an ihm abarbeiten dürfen, um eine neue Stufe der Erkenntnis, der beglückenden Einsicht zu erlangen. Manchmal dauert das Jahre, manchmal passiert es spontan. Oder immer wieder neu, wie es mir mit Paulus‘ 2000 Jahre alter Gedankenkette über menschliche Selbsterkenntnis geht:

9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. 13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. (I. Kor. 13)

Nichts hinzuzufügen. Worte von ewiger Schönheit.

Begegnung

Mittwoch. Sie ist pünktlich und kommt mit Kuchen. Ihr Mantel ist schwer vom Regenwasser. Ich bin krank und kann nicht raus, GsD!, und auch nicht zum Dienst. Aber Besuch geht. Der ist von langer Hand geplant, der gute Harry hat unser Treffen von Tübingen aus organisiert.
Du wirst immer ein Fremdkörper bleiben, fasst sie ihre Erfahrungen im Osten der Republik zusammen. Sie ist Pfarrerin und kommt ursprünglich aus Bayern. Aus dem Westen, wie es hier nach 35 Jahren immer noch gnadenlos heißt. Die aus dem Westen sind komisch. Weil sie herkommen? Weil sie immerzu irgendwas wollen? Das ist meine Interpretation, vielleicht, weil ich immerzu irgendwas will.
Die Leute hier wollen keine Veränderung mehr, sagt sie: die hatten mit ’89 genug davon.
Deshalb reden diese auffallend vielen Kinder/Jugendlichen, die in einer Wohngruppe leben, vom Heim,  Dunkelhäutige sind Neger und die Frauen titulieren sich Arzt / Lehrer / Angestellter und nicht  Ärztin / Lehrerin / Angestellte?
Anfangs ist das lustig (exotisch? unangepasst?), irgendwann nervig. Diese Diskussionen hatte ich zuletzt in den Siebzigern, ein inneres Gähnen macht sich breit. Das Festhalten an sprachlich Überkommenem wird aggressiv verteidigt, West gegen Ost. Was wollen die Wessis schon wieder? Wir reden, wie wir wollen. Herrliche Alliteration, inhaltlich so was von vorgestern!
Ich bin nicht entmutigt, bin in einer bevorzugten Situation, habe Plan B immer in der Tasche. Es gab für mich nie einen Grund, von Tübingen wegzugehen, außer PM. Der ist der einzige Grund. Der Mann ist übrigens auch der Grund für die Pfarrerin, durchzuhalten.
Es ist schmerzhaft, eine Fremde zu sein, sagt sie. Den Schmerz musst du aushalten. Das Heimweh auch.
Ach du Scheiße!

Der Ring

Mein Lieblingsgegenstand ist ein doppelter Ehering.
Er gehörte meiner Mutter. Früher war er nicht doppelt. Erst nach dem Tod meines Vaters wurde er aufgestockt, indem meine Mutter ihren eigenen und den Ring meines Vaters zusammenlöten ließ.
Der Ring ist aus Gold, und er ist ein bisschen schief. Wahrscheinlich, weil der größere meines Vaters nicht korrekt verkleinert wurde. Er ist auch eine Spur breiter. Am Finger sieht man das nicht, nur wenn ich ihn hinlege, fällt die leichte Asymmetrie auf.
Die Ehe meiner Eltern habe ich nie verstanden. Sie stritten fast jeden Tag, mein Vater brüllte dann, meine Mutter stichelte. Normale Gespräche kamen selten vor. Ich wartete darauf, dass sie sich scheiden ließen, doch sie blieben zusammen bis zum bitteren Ende.
Mein Verhältnis zu meinen Eltern war auch nicht besser. Mit 15 bin ich gegangen, das hat meine Mutter mir nie verziehen.
Warum ich den Ehering trage? Seit ihrem Tod bin ich ihr näher gekommen. Ich nehme ihr nicht mehr so viel übel. Erkenne ihre eigene Not, ihr Unwissen, ihre Hilflosigkeit hinter manchen seltsamen Aktionen, die ich damals in der Situation als grausam und boshaft gedeutet habe.
Deine Mutter hat eine unglückliche Art, ihre Liebe zu zeigen, sagte mein Onkel einmal. Da lebte sie noch. Da ich den Satz nicht vergaß, konnte er über die Jahre seine Wirkung entfalten und manches relativieren. Das Schiefe, Schmerzhafte, auch Nichtwiedergutzumachende wird mir in dem Ring konkret. Ich trage ihn gerne. Ich schließe Frieden mit meiner Familie.

Kreative Schreibaufgabe: Beschreibung eines Lieblingsgegenstandes

Danke, Kanzler

Dienstag. Egal, was man dem Bundeskanzler alles vorwerfen kann – ich danke ihm ewig, dass er in Sachen Taurus nicht nachgibt. Egal, wie oft Baerbock, Strack-Zimmermann, Hofreiter, CDU-Merz, Pistorius etc. pp. es auch wiederholen: Marschflugkörper bomben uns den Frieden nicht herbei.

People in the Sun

Sie sieht aus wie Maike, auch wenn ich ihr Gesicht nicht sehen kann. Dieselben schulterlangen Haare, derselbe Gelbton. Und ihr Arm. Maikes schlanke Arme, stundenlang kann sie so sitzen, ohne sich zu regen. Sich aufzuregen. Die Füße nebeneinander auf dem Boden. Maike achtet auf eine gesunde Fußstellung und einen geraden Rücken.
Maike ist 800 km weit weg. Und überhaupt, sie ist nicht mehr da. Für mich. Dass sie mir bis hierher folgen würde. Das verblüfft mich nun doch einigermaßen. Der erste Tag ist wahrscheinlich der schwierigste. Man muss sich erst eingewöhnen. Sagen hier alle: Erstmal ankommen. Die Speisekarte recht vielversprechend. Ich werde heute Abend eine Rinderroulade essen. Dazu Bratkartoffeln und eine dicke, braune Soße. Ich habe sofort gewusst, es wird die Roulade. Gesehen und entschieden. Maike sagt oft: Hast Du’s bald? Ich stelle mir ihr Gesicht vor, spüre meine Mundwinkel zucken. Zack, nicht lange rumüberlegt. Maike, die Vegetarierin, die Fett- und Kohlehydrateverächterin, kann nicht einschreiten. Maike schreitet gern ein, aber mir macht das nichts aus. Sie hat meistens Recht, das muss ich zugeben. Man will ja keinen Herzinfarkt mit 40. Maike wird sicher 100. Oder 98. Wenn es so weit ist. Maike plant, die Erde bewusst zu verlassen. Wenn ich jetzt wieder auf Fleisch umsteige, ist mein Ausgang offen. Eine Rundumverjüngungskur verspricht die Webseite. Ein Jungbrunnen mit Fleisch und Bratkartoffeln. Seltsam.
Interessant durchaus. 

Hier setzt man auf Luft. Höhenluft. Auf Ruhe. Gemeinsames Schweigen. Die vor mir packt das nicht. Die ist nicht Maikes Kaliber. Jede Wette, die will was loswerden, die hat eine Story auf Lager, ihre Absätze scharren über den glatten Beton wie Reptilien, die kriegen wir heute noch zu hören, ihre Geschichte. Pikantes über Schnauzbart, vielleicht. Die beiden sind ein Paar. Ganz klar. Diese flatternde Kälte zwischen ihnen, die verrät sie. War Schnauzbart auf Abwegen? Oder sie? Hat er sie enttäuscht? Gelangweilt? Erschreckt? Hat Schnauzbart dunkle Leidenschaften? Ihr roter Schal bewegt sich ganz leicht. Nicht im Wind, es gibt keinen Wind. Weil sie sich bewegt. Ihre starre Haltung ist voller Unruhe. Wie lange hält sie noch durch? Schnauzbart tut auch nur so als ob. Nur der Typ vorne liegt so echt in seinem Kissen, dass ich vor Neid auf einmal ganz schwach werde.
Einmal so ruhen können. Auf die anderen pfeifen.
Sich selbst genug sein. 

People in the Sun, Edward Hopper (1960) Kreative Schreibaufgabe: Vom Bild zum Text