Heimat V

Wahrscheinlich habe ich hier im Holzparkett, direkt unter meinem Schreibtischstuhl, robustere Wurzeln geschlagen, als ich zu wissen meine. Tübingen. Die Stadt, in der ich lebe, liebe und arbeite. Süddeutsche Unikleinstadt, deren Einwohner einen gewöhnungsbedürftigen Dialekt sprechen … der Anderssprachige, durch ein einziges Wort Gezeichnete ausgrenzt? Gibt sich nach außen locker und gemütlich, ist im inner circle aber eher ungastlich. Meine tieferen Wurzeln sind, logisch, im Ruhrgebiet. Kamen, Dortmund, Essen, sind die Orte meiner Vergangenheit. Fahre ich in die alte Heimat, wird mir warmumsherz und ich fühle mich eins mit den Menschen, ihrer Sprache, den schwarzen Industrieanlagen und den schwarzroten Backsteinsiedlungen. Das ist Altes, Unauslöschliches. Aber auch: Vergangenes, nicht mehr Wiederbelebbares, Abgelegtes. Wurzelreste. Der Hauch von Nostalgie, der auch andere Orte durchweht, wo ich ein Stück Leben verbracht habe. Oder verbringe, oder noch nicht weiß, wieviel ich noch verbringen werde. Gegenwart und Vergangenheit. Kiel, irgendwie und immer wieder. Und erst B.N. – Orte und Menschen. Leben ist lieben. Familie. Meine Familie ist eine andere als meine Herkunftsfamilie. Gekappt, die schädlichen Wurzeln, als lebensrettende Maßnahme. Da vertraue ich nur mehr auf die frischen, noch hellen Wurzeln. Die unvergifteten. Unvoreingenommenen. Wohlwollenden. Dann, ja dann meinetwegen ist Blut dicker als Wasser. Im Allgemeinen mag ich Wasser lieber als Blut. Ich mag auch mehrere Heimaten. Selbstbestimmte. Die familiären Wucherwurzeln können mich mal. Ich habs nicht so mit dem Blut. Und auch nicht mit dem Boden. Boden ist ja schön und gut, aber du kannst ihn nicht mitnehmen. Er ist außen, und irgendwann ist er weg. Meine Heimat ist die Welt der Geschichten. Der Kommunikation. Diese Welt kleidet mich von innen aus, ich kann sie tragen, wohin ich auch gehe. Sie ist verlässlich, zuverlässig verfügbar. Wie eine gute Mutter es sein sollte. Es ist eine verknüpfte, vernetzte und sehr dünnwandige Welt mit Abertausenden Luftwurzeln. Ohne die ich ersticken würde, ohne das Viele und die Vielen, die manchmal zu viel sind. Es ist eine Metawelt, in der das Geschehene, Gesehene, Gefilterte sich in Wörter verwandelt. Das Erlebte auszuhalten. Zu überleben. Egal wo.