Schlechte Musik von schlechten Eltern

Dienstag, B.N. Gestern auf der Rückfahrt von Eisenach – satte vier Stunden wegen zäh fließendem oder auch mal gar nicht fließendem Verkehr – auf HR3 die Jahres-Playlist der 52 meistgespielten neueren Titel sämtlicher Radiostationen gehört.

Und nicht umgeschaltet. Weil man immer denkt, next will be better. Wird aber nicht. Alles der gleiche weichgekochte Elektrobrei, megakonventionell und komplett kraftlos. Da denkst du sehnsüchtig an Rockstars zurück, die gerne mal gekonnt ihre E-Gitarren zerlegten – welche E-Gitarren?, die kommen ja gar nicht mehr zum Einsatz! -, da lechzst du nach so einem Aus-uns-wird-nichts-und-ihr-seid-auch-alle-Scheiße-Antisong von den Sleaford Mods. Statt dessen hörst du und willst es kaum glauben, dass Namika vor ausverkauften Hallen singt.

Es ist dieselbe Namika, die da gerade von ihrem Lieblingsmenschen trällert. Und was hat der getan, um ihr Lieblingsmensch zu werden? Er kennt die Protagonistin! Sehr gut sogar. So gut, dass er dafür ein Riesenkompliment verdient. Denn nur bei ihm kann ich ich sein und träumen und verrückt sein. Verrückt? Was ist denn an Namika verrückt? Mit Adele – Hello  – , Robin Schulz, Andreas Bourani, Coldplay, Zara Larsson oder Doppel-W Wincent Weiss – Du am schlafen und ich immer noch hellwach – wird es auch nicht verrückter. Nur immer langweiliger. Scheint’s, keiner von denen steigt mal hinab in jene Regionen, wo Dunkelheit, Desillusion und Wut wabern, um uns, die wir Müsli zum Frühstück essen und unsere Schuhe vor der Haustür ausziehen, von ihren künstlerischen Grenzerfahrungen zu berichten.

Grenzerfahrungen? Hello! Warum das denn?

Von hier – nach da.
Von mir – zu dir.
Bleib hier – bin da, steckt der Wincent seine Grenzen ab. Das einzige, wonach der sich sehnt:
Bis die Tage wieder werden, wie sie früher mal waren. Aah, das ist ja nun an Drögigkeit kaum noch zu überbieten! Man könnte auch sagen: Schlechte Musik von schlechten Eltern. Setzen, sechs! Das deprimiert mich zutiefst. Warum bloß dieses endlose, austauschbare Seifenblasengeblubber auf einem öffentlich-rechtlichen Sender, der doch auch mal den weniger mainstreamigen Geschmack bedienen sollte? David Bowie zum Beispiel. Hat ein neues, ungeheuer abgründiges Album gemacht – hat irgendjemand schon Blackstar im Radio gehört? Wenn es um die Songs des Jahres geht, dann erwarte ich so was in der Playlist des, sagen wir, HR3, allein schon wegen des musikalischen Erziehungsauftrages. Oder Snakeskin von Deerhunter, War in Peace von Sexwitch, The Neverending Sigh von Foo Fighters, mehr von Joanna Newson und alles von Tocotronic. Und, warum nicht, mal einen Titel aus Keith Richards wunderbarem, im September 2015 erschienenen Crosseyed Heart?

Ist das, was HR3 da abspielt, überhaupt Musik für die Mehrheit? Ich schätze, die verschätzen  sich. Musik muss doch auch ein bisschen krank, ein bisschen roh sein, muss weh tun, muss dich verwirren und hypnotisieren oder dich wenigstens ein Stück weit mitnehmen. Musik muss Bilder zum Platzen bringen, Schubladen aufreißen, Explosionen im Kleinhirn auslösen. Sie muss Emotionen und Erinnerungen wecken.

Wincent Weiss’ Regenbogenlied weckt bei mir nur den Lachreiz. Oder, wenn ich im Stau auf der A5 zwischen Alsfeld und Gambacher Kreuz stehe, den Würgreiz.

Was meint eigentlich mein Lieblingsmensch dazu?