Ach Mensch, Irene

Samstag. Begegnungen können traurig und glückvoll und klärend in einem sein. Am Anfang steht eine E-Mail.

Des Absenders Frau war meine Freundin Irene Mieth. Wir waren Freundinnen und Kolleginnen und saßen jahrelang am selben Tisch im selben Zimmer. Wir redeten über Gott und die Welt im wahrsten Sinne des Wortes und manchmal auch über Kosmetikprodukte. Der Altersunterschied zwischen uns spielte keine Rolle. Irene war eine schöne, stolze Frau. Sie hatte den Gang einer Königin. Sie hatte das, was ich unter Haltung verstehe. Sie sagte ihre Meinung, sie hatte intellektuell den Durchblick, sie schrieb einige Bücher und sie leistete gute Arbeit. Sie hatte hohe Ansprüche an sich selbst und war immer wieder perplex, wenn andere sich so durchlavierten. Das war eine Lebenshaltung, die sie nicht nachvollziehen konnte. Vor eineinhalb Jahren ist sie gestorben, und ich wusste nicht mal, dass sie krank war. Nach ihrer Pensionierung zog sie sich zurück, arbeitete auf anderen Gebieten im sozialen Bereich und in der Familie, und ich hatte wie immer zu viel zu tun und fragte zu selten nach. Zweimal trafen wir uns, im Nachhinein kann ich nicht sagen, ob sie beim zweiten Mal schon krank gewesen ist.

Plötzlich die Todesanzeige. Der Schock über den Verlust, aber auch über mich selbst. Nie hatte ich mit etwas in der Art gerechnet, im Gegenteil, hatte ich mir oft ausgemalt, mit Irene mache ich noch mal was Größeres. Von unendlich viel Zeit ausgegangen, statt ihre – unser aller – Begrenztheit zu begreifen. Der Schock über den unwiederbringlichen, schmerzhaften Verlust (abgegriffenes Vokabular, ich weiß, aber genauso ist es) eines sehr geschätzten Menschen und das schuldhafte Bewusstsein, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Während ich gleichzeitig an einem Buch über Tod und Trauer arbeitete und noch arbeite, in dem das Thema Schuld immer wieder aufflammt …

Und dann die Mail von Dietmar Mieth: Vorschlag zu einem Treffen im Ludwig’s, um über Irene zu sprechen. Das war letzte Woche. Und treibt mich seither um.

Mieth erzählt. Versucht nebenbei, mich zu entlasten, aber das weiß ich selber aus meiner Arbeit an den Interviews über Tod und Trauer, wie wenig solche Versuche bringen. Schuld und Tod gehören eng zusammen. Man hätte doch …. Ja, hätte man. Hat man aber nicht, und nun erfahre ich von Irene, die auch hätte, aber nicht hat. In ihrem Sterbetagebuch (typisch Irene!) steht ein Elfchen für mich. Irene schrieb gerne Elfchen, diese knappe, auf den Punkt gebrachte Form lag ihr. Er zeigt es mir, und das ist kaum auszuhalten.

Also: Sehr früh am Morgen des 16. Dezembers 2016 – sie liegt zu dem Zeitpunkt in der Klinik, hat die OP abgelehnt und weiß, dass sie nicht mehr lange zu leben hat – denkt sie an mich. Plant ein Buch mit mir …

Vieruhrdreißig

Ein Gedankenblitz:
N…* anrufen und mit ihr
ein Buch planen –
Zukunft.

… und sagt mir nichts davon.

Ich hätte es gerne gemacht. Wenn ich es gewusst hätte. Vielleicht verbindet uns ja genau das: Viele Pläne und Projekte, viele davon auch nur im Konjunktiv; Idee, Gedankenspiel. Manche Taten sind nur Gedanken. Deshalb nicht weniger wert.

Mieth lebt in Gedanken mit Irene, obwohl er sein äußeres Leben radikal verändert hat. Das riesige, mit Bücherregalen tapezierte Haus hat er verkauft, ist zu seiner Tochter ins Ruhrgebiet gezogen, kümmert sich um die Enkelin und hat sich, noch mit Irene zusammen, ein neues Arbeitsfeld erschlossen: Die Forschungsstelle „Meister-Eckhart“ am Max-Weber-Kolleg Erfurt, deren Leitung er innehat. Er schreibt, hält Vorträge, ist unterwegs. Er ist lebendig und jung im Kopf. Er sagt, er habe eine Entscheidung mittragen müssen, von der er selbst nicht überzeugt gewesen sei, und in welche Konflikte ihn das gebracht habe: Die Ablehnung der Operation. Er sagt: Aber du weißt ja, wie sie ist.

Ja, weiß ich. Und dass er im Präsens von ihr redet, ist auch okay. Irene hat nie im Rückblick gelebt, immer nach vorne. Sie ist jetzt irgendwie dabei (wie oft war ich mit ihr im Ludwig’s …), sitzt mit uns am Tisch, trinkt ihren Kaffee und lächelt mit diesem leicht spöttischen Blitz in ihren Augen.

Ach Mensch, Irene.

 

*mein Nickname