Aufgeklärt

Samstag, B.N. Die Beschäftigung mit dem Tod führt einen immer wieder und zwangsläufig auf das Thema Einsamkeit / Verlassenheit zurück.
Und das ist auch gut so. Das Individuum, ich und jede*r andere, hat sich mit seiner Verlassenheit zu konfrontieren und auseinanderzusetzen.
Denn: Es ist eine kulturelle Leistung unserer aufgeklärten Gesellschaft, die Autonomie des Individuums herzustellen. Das existentiell gesicherte Fundament ist das eines Selbstbezugs. Es ist dieser Selbstbezug, auf dem unsere Autonomie beruht und der seinem tiefsten Verständnis zufolge das Individuum zunächst vor jeglicher Familien- oder Gruppenhaftung, vor jeglicher Vereinnahmung durch Ideologien und Institutionen schützt und davon befreit insofern, als er ihm eine ständige rationale, kritische Überprüfung derselben abverlangt.
Alle äußeren und inneren, für das Individuum relevanten Prozesse unterliegen von nun an nicht mehr zwangsläufig der Tradition, sondern in fortschreitendem Maße der subjektiven Beurteilung. Jedes subjektive Urteil bringt seinerseits neue Optionen hervor – „alles so schön bunt hier!“, sang Nina Hagen einst, während der Soziologe Peter Gross das Resultat dieser Veränderung mit dem schönen Begriff „Multioptionsgesellschaft“ belegt.
Die Unbegrenztheit der selbstgewählten Möglichkeiten befreit uns vom Althergebrachten, doch der Preis der Befreiung ist das Alleingelassensein. So ist auch der Abschiednehmende mit der Wahl seiner Abschiedsrituale allein, d.h. auf sich und seine individuellen Wünsche gestellt, und der Trauernde ist mit seiner Trauer allein, insofern er sich auf keinen Automatismus des Helfens und Mitleidens berufen kann.
Im Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften mit ihren vorgegebenen Rollenmustern, in denen das Individuum im Familienverband und damit in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Stand aufgeht, muss der Einzelne in unserer vernunftbasierten, säkularen Gesellschaft permanent für sich selbst sorgen, um das Alleinsein, die Verlassenheit auf das gerade noch erträgliche Maß zu begrenzen.