Dienstag. Mein Großonkel Wolfgang Kaskeline (* 23. September 1892 in Frankfurt am Main, gest. 13. März 1973) war ein deutscher Regisseur für Werbefilme, Filmproduzent und Professor an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee.
Er war der Bruder meiner Oma Olga von Alt-Stutterheim, und er war ein paar mal bei uns zu Hause zu Besuch gewesen. Er lebte mit seiner Frau Edith in einem schönen Bungalow in Bad Godesberg, wo ich zum ersten Mal im Leben eine Lassie-Folge im Fernsehen sah. An dem Tag war auch seine Schwester Sigrid aus Konstanz da, eine sehr blonde und sehr dicke Dame, die bei dem Lassie-Film in Tränen ausbrach. Das kam mir sehr merkwürdig vor, dass eine erwachsene Frau wegen einem Filmhund weint. Unter dem Gewicht von Tante Sigrid zerbrach später ein Wohnzimmersessel meiner Eltern. Meine Eltern sagten, Tante Sigrid sei fressüchtig und mannstoll. Sie konnte phantastisch zeichnen; in meinem Keller liegt heute noch eine Schachtel mit ihren Karikaturen und Schuhentwürfen.
Auf der Godesberger Terrasse von Wolfgang und Edith Kaskeline stand eine Hollywoodschaukel. Es gab eine Art Wintergarten, und alles stand voll mit deckenhohen Grünpflanzen. Ich fand das Haus wahnsinnig schick. Mein Großonkel Wolfgang hatte eine gelähmte Gesichtshälfte und ein steifes Bein. Im Gegensatz zu seiner sehr hübschen, duftenden und lustigen Frau sah er furchterregend und uralt aus. Er trug weiße Anzüge und sah über uns Kinder hinweg. Auf seinem weißen Mercedes-Cabriolet hatte er die Typennummer durch den Schriftzug Kaskeline ersetzen lassen, der blitzte in der Sonne. Wie ich später erfuhr, war er ein Kriegsversehrter des Ersten Weltkrieges. Von August 1914 bis zu seiner Verwundung am 26. Oktober 1914 war er Kriegsfreiwilliger. Dann kam er wegen der schweren Verletzung für zwei Jahre ins Lazarett und verliebte sich in seine Krankenschwester, die seine erste Frau wurde.
In der Familie erzählte man sich, dass die erste Frau genauso aussah wie Tante Edith, die Nachfolgerin. Warum hatte er sich dann scheiden lassen? Auch das fand ich seltsam und geheimnisvoll.
Ursprünglich von der Malerei kommend, war der junge, filmbegeisterte Zeichenlehrer als Werbegrafiker zum Trickfilm gekommen. Er produzierte in seinem Haus in Berlin-Tempelhof. Mit einem Spot für Continental gelang ihm der Durchbruch als Werbe-Zeichentrickfilmer. 1927 schloss er sein Unternehmen der Ufa-Werbefilm an. Mit Beginn des Tonfilms 1930 konnte er sich als einer der ersten europäischen Werbefilmer durchsetzen. (Wikipedia)
Unter anderem setzte er den berühmten Sarotti-Mohr in Bewegung. (Uns erzählte man jahrelang, unser Großonkel habe ihn erfunden, was jedoch nicht stimmt.) In den 1930er Jahren firmierte das Atelier als Ufa-Kaskeline. Später trennte Wolfgang Kaskeline sich wegen Unstimmigkeiten von der Ufa und gründete Kaskeline-Film, ein Familienbetrieb, den 1962 seine Söhne Heinz und Horst übernahmen. 1987 gründeten Heinz und Ehefrau Jutta Kaskeline die nach ihm benannte Kaskeline-Filmakademie in Berlin, eine staatlich anerkannte, berufsbildende Einrichtung.
Nach der Trennung von der Ufa arbeitete Wolfgang Kaskeline 1937 bis 1943 für Epoche Film. 1943 wurde er Chef der neu gegründeten Deutschen Zeichenfilm GmbH.
Außer für Sarotti und Continental entwickelte mein Großonkel Wolfgang Kaskeline Spots für viele andere, große Markenprodukte wie Blaupunkt, Bolle, Muratti usw. Nach dem Krieg war Kaskeline eine der ersten Filmfirmen, die in Berlin wieder zugelassen wurden. Bis in die 1960er Jahre hinein wurden dort 30 Zeichnerinnen beschäftigt. Gedreht wurde für Bols, Asbach, Persil u.v.a. Als schönste Erzeugnisse der UFA-Werbefilmabteilung seien die Farbfilme Palmenzauber und Zwei Farben erwähnt, die, nach Art der Fischinger-Studien hergestellt, beste Beispiele für wirksame und vornehm-unaufdringliche Werbung im Film waren. (Wikipedia)
Wolfgangs Vater war der jüdische Fabrikdirektor Viktor Kaskeline (1858-1931), mein Urgroßvater also. Nun fragt man sich, wie ein jüdischer Filmer zu derartigen Ehren während des Dritten Reiches kommen konnte und wieso man ihn unbehelligt arbeiten ließ.
Offenbar war es ihm ähnlich ergangen wie auch einigen anderen prominenten Film- und Theaterkünstler*innen, die als jüdisch oder „jüdisch-versippt“ vom NS-Staat Ausnahme- und Sonderregelungen erhielten, um weiterhin ihrem Beruf nachgehen zu können. Hitler, der nicht nur auf Kino, Oper und Theater, sondern auch auf drollige Zeichentrickfiguren stand, ernannte die von den Rassegesetzen betroffenen Künstler*innen im Sinne eines „Gnadenerweises“ zu „Ehrenariern“. (Ca. 310 solcher Ausnahmen von der Regel sind bis heute bekannt.)
Wolfgang Kaskeline hatte seinen Abstammungsnachweis verweigert, bzw. er konnte ihn nicht vorlegen. Nach 1935 sollten jedoch auch sog. „Halb- und Vierteljuden“ von der Reichskulturkammer überprüft werden. Da diese Angelegenheit selbst auf höchster Ebene kontrovers diskutiert wurde, blieb es für die Reichskulturkammer letztlich eine Ermessensfrage.
Viele Künstler*innen erbaten so eine Sonderregelung, die ihnen den Fortbestand ihrer Arbeit ermöglichte. Unterstützt wurden sie oft von einflussreichen Persönlichkeiten. Es gab auch Fälle, dass „arische“ Mütter eine eidesstattliche Erklärung abgaben, um durch die Leugnung der Vaterschaft ihres jüdischen Partners dem Sohn oder der Tochter eine Lebensgrundlage zu erhalten.
Auch im Stammbaum meiner Mutter war es zu solcher Verschiebung gekommen. Ich hörte einmal meinen Vater sehr verärgert sagen, dass es wegen dieser „Änderungen“ kaum möglich sei, einen Stammbaum der Familie zu erstellen. Andere Familienmitglieder leugnen die kleine Geschichtsklitterung bis heute.
Bei der Sonderregelung für Künstler*innen handelte es sich um eine „jederzeit widerrufliche Sondergenehmigung“, die sich im Laufe der Jahre als außerordentlich wirksames Instrument der gezielten Einflussnahme auf das Theater- und Filmsystem erwies. Die betroffenen Künstler*innen befanden sich in einer unmittelbaren Abhängigkeit zu den genehmigenden Instanzen und waren deren ständiger Willkür ausgesetzt. Unter der Bedrohung, jederzeit die Arbeitserlaubnis wieder zu verlieren, waren die künstlerischen Freiräume und Ausdrucksformen äußerst beschränkt und machten einer ängstlichen Selbstzensur Platz.
Ähnlich wie etwa die berühmte Schauspielerin Henny Porten kam auch mein Großonkel Wolfgang Kaskeline in den Genuss einer solchen Sondergenehmigung. Er galt eine Zeitlang als die deutsche Antwort auf Walt Disney und war somit als Aushängeschild unverzichtbar.
Ich zitiere im Folgenden aus der Untersuchung: „Mitteilungen des P. Walter Jacob Archivs der Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur, HAfdE exilOgraph Ausgabe Nr. 5, Frühjahr 2000: Das Institut der ‚Spielerlaubnis mit Sondergenehmigung‘ im NS-Staat; Ein neues Projekt der Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur“:
Ein beispielhafter Fall ist Wolfgang Kaskeline, einer der begabtesten Trickfilmzeichner bei der Ufa, der z.T. auch eigener Produzent und vor allem „Halbjude“ war. Kaskeline hatte auf mehrfache Aufforderungen, die entsprechenden Urkunden für seinen Ariernachweis einzureichen, nicht reagiert. Darauf ließ die Abteilung „Abstammungsnachweis“ der Reichskulturkammer eigene Recherchen anstellen und kam zu dem Ergebnis, daß Kaskeline bei seiner Anmeldung zur Reichsfilmkammer seine wirkliche Abstammung verschwiegen habe, ein Vorgang, der in der Regel sofortiges Berufsverbot und nicht selten auch weitere gerichtliche Schritte nach sich zog.
Nicht so im Fall Kaskeline. Er erhielt am 25. September 1935 eine Sondergenehmigung „bis zur grundsätzlichen Klarstellung der Behandlung von Halb- und Vierteljuden“. Allerdings wurde eine Klärung in diesem Sinne bis zum Juni 1939 offengelassen, solange nämlich, bis die Ufa, die die nebenher laufende selbständige Arbeit des Zeichners für andere Firmen aus Konkurrenzgründen nicht länger dulden wollte, einen Vorwand zur fristlosen Entlassung gefunden hatte. Seitens der Reichsfilmkammer wurde Kaskeline zunächst nur verwarnt. Da er aber sofort bei einer anderen Firma untergekommen war, legte die Ufa Beschwerde ein, worauf ihm im Februar 1939 „auf Anweisung des Herrn Ministers nach Vorlage beim Führer“ die Sondergenehmigung in „endgültiger Entscheidung“ entzogen und angeordnet wurde, sein neues Vertragsverhältnis bei der Epoche-Gasparcolor, einer Firma für Werbefilme, umgehend zu lösen. Die Firma beantragte eine angemessene Abwicklungsfrist zur Fertigstellung der in Arbeit befindlichen Filme, rechnete sich dafür aber wenig Chancen aus, und kündigte deshalb an, bei der Reichsstelle für Sippenforschung Antrag auf eine erb- und rassenkundliche Untersuchung Kaskelines zu stellen, was in jedem Fall bis zur Klärung einen Aufschub ermöglichte. Begründet wurde der Antrag mit einer inzwischen von Kaskelines Mutter abgegebenen eidesstattlichen Versicherung, daß ihr 1931 verstorbener Mann nicht jüdischer Herkunft gewesen sei, sondern der außereheliche Sohn eines Teplitzer Schloßbesitzers. Sowohl der Reichskulturkammer als auch Goebbels selbst war klar, daß es sich hier um eine schwer nachprüfbare Falschaussage handelte, aber sie paßte plötzlich in Goebbels’ eigene Pläne, der auf Kaskelines künstlerische Fähigkeiten aufmerksam geworden war und schließlich selbst diesen Antrag stellte. Der Epoche-Firma, von ihren Auftraggebern bereits bedrängt, ob man Kaskeline-Filme überhaupt noch im Werbeprogramm der Filmtheater zeigen dürfe, wurde eine Abwicklungsfrist bis zum 30. September 1939 eingeräumt. Am 31. Juli 1939 erhielt Kaskeline „ausnahmsweise“ eine neue Sondergenehmigung „bis zum Abschluß der laufenden Untersuchung bei der Reichsstelle für Sippenforschung“. Diese beschied schließlich im Februar 1940, daß Kaskeline „Vierteljude“ sei. Ende März 1940 wurde er als „vollgültiges Mitglied“ in die Reichsfilmkammer aufgenommen, arbeitete noch bis April 1943 im Anstellungsverhältnis für die EpocheFilm, hauptsächlich aber für die inzwischen gegründete Deutsche Zeichenfilm GmbH, mit der Goebbels eine neue Idee verwirklichen wollte, den Walt-Disney-Filmen der USA eine gleichwertige deutsche Zeichenfilm-Produktion entgegenzusetzen.
Kaskeline wurde nach seinem Ausscheiden bei EpocheFilm der offizielle Atelierleiter der Zeichenfilm GmbH.
Übrigens: Der Onkel von Wolfgang Kaskeline war Friedrich Kaskeline (* 8. Mai 1863 in Prag; gest. nach 1931), ebenfalls Zeichner, Buchillustrator und Scherenschnittkünstler. Er war Schüler der Akademie der bildenden Künste Wien unter dem Historien- und Porträtmaler Christian Griepenkerl. Er arbeitete als Illustrator des humoristisch-satirischen Wiener Arbeiterblattes Glühlichter (1889/90-1915) und anderer Zeitschriften, und er war in Berlin Repräsentant und Spezialzeichner der illustrierten Journale The Graphic und The Daily Graphic (London). Im Ersten Weltkrieg schuf er Propagandagraphik. In den 1920er Jahren entstanden zahlreiche Illustrationen auf Postkarten von ihm, die auch in England Erfolg hatten, sowie Gebrauchsgraphik. (Wikipedia)
Man kann seine Postkarten und Scherenschnitte gelegentlich auf Ebay finden.
Friedrich Kaskelines Todesdatum und -ort sind unbekannt. Soweit die Quellenlage.
Von meiner Mutter weiß ich aber, dass die Todesursache durchaus nicht so unbekannt ist. Friedrich Kaskeline wurde „abgeholt“ und ist niemals wieder gekommen. Es wird vermutet, dass er als Jude in Theresienstadt oder Auschwitz ermordet worden ist.
Friedrich war der Bruder meines Urgroßvaters Viktor Kaskeline (meine Großmutter schilderte Viktor, ihren Vater, als grausamen und sadistischen Familientyrann). Friedrich Kaskelines einziger Sohn war mein Lieblingsonkel Egon („Echen“) Kaskeline, also ein Vetter von Wolfgang Kaskeline. Egon Kaskeline hatte in England studiert und promoviert und war dann ins Exil in die USA gegangen. Nach dem Krieg lebte er in Paris. Er war Wirtschaftsjournalist bei der ZEIT. Nicht nur sein Vater Friedrich, auch seine Mutter war im KZ umgekommen. Er hat darüber nie gesprochen.
Mit fünfzehn war ich einmal in den Osterferien bei Onkel Echen und seiner Frau Ellen zu Besuch in ihrer Pariser Hochhauswohnung und habe dort zwei sehr spannende, bis heute unvergessene Wochen verlebt. Die beiden waren jung und modern und aufgeschlossen, obwohl Echen zu der Zeit schon über 70 Jahre alt war, sie zeigten mir Galerien und Modeboutiquen, und im Museum konnten sie eine Stunde lang vor ein und demselben Gemälde sitzen. Man munkelt, so haben sie sich auch kennengelernt, vor einem Bild sitzend, beide schon in den besten Jahren und kunstliebend. Auch Ellens Eltern sind im KZ ermordet worden. Ringsum an den vier Wänden ihres Wohnzimmers standen hunderte von Langspielplatten auf dem Boden. Die hatten sie alle katalogisiert. Einmal legte mein Onkel mir den Katalog auf den Schoß und frage mich, was ich hören wollte. Ich schlug den dicken Wälzer irgendwo auf und zeigte auf Bachs Kaffeekantate.
„Welche Interpretation?“, fragte mein Onkel, denn er hatte die Kaffeekantate von vier oder fünf verschiedenen Dirigenten.
In meiner Wohnung hängt ein Gemälde von Onkel Echen in Orange- und Ockertönen. In seiner Pariser Wohnung stand ein Klappbett im Schlafzimmer, das wurde tagsüber hochgeklappt, und dann baute er seine Staffelei an Bettstelle auf. Er malte in Öl und abstrakt. Er brachte mir bei, nicht auf das zu hören, was andere über dich sagen.
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(Heute vor 70 Jahren wurde der Auschwitz-Greuel durch sowjetische Truppen beendet. Zwischen 1940 und 1945 wurden in dem Konzentrationslager 1,1 Millionen Menschen ermordet.)