Licht und Sinnlichkeit

Mittwoch, B.N. Mit dem vergangenen Jahr begann mein ganz subjektiver dritter Lebensabschnitt.

Hab ja auch einiges dafür getan. Die Sicherheitsplattform verlassen (sofern überhaupt noch existent), meinen seelischen Haushalt infrage gestellt/zerlegt, m. auf die Suche nach den passenden Teilen im Großen Puzzlespiel begeben, und immer noch wieder neue Lernprozesse …

Begegnungen mit Menschen, die ich mir vorher nicht zugetraut hätte.

Wenn ich früher erfahren hätte, dass es mir in dem Alter, in dem ich mich jetzt befinde, so gut geht, wäre ich sicher sehr neugierig auf meine Zukunft gewesen. Mit dieser Neugier sehe ich jetzt dem nächsten Jahr entgegen, überhaupt den nächsten Jahren.

Meine Theorie, dass Alter eine zutiefst konventionelle und wenig hilfreiche Kategorie ist, bestätigt sich immer wieder in meinem eigenen Leben. Mit dreißig kannst du dich grau und alt fühlen, mit fünfzig saftig und schillernd. Diese Zahlen haben höchstens für irgendwelche statistischen Erhebungen Bedeutung, und Statistiken sind im Allgemeinen ja eher uninteressant, weil auf den Einzelfall, also auf mich, in den meisten Fällen nicht anwendbar.

Zugbekanntschaft

Samstag, B.N. Gerade mal ein Abteilplatz ist frei in dem vollbesetzten Zug. Vor mit ein Mann meiner Altersklasse mit Kabel im Ohr, stellt sich schlafend oder schläft, neben ihm eine ältere Lady, deren Style mich gleich interessiert – konsequentes Schwarz-Weiß bis hin zum Schmuck -, neben mir ein Mädchen mit Kabel im Ohr, stellt sich schlafend oder schläft, und neben der, am Fensterplatz, ein dicker Junge mit Kabel im Ohr und Nintendo auf dem Schoß, spielt lautlos Games, sein Gesicht wie schockgefroren, unbeweglich und unbewegt.
Ich ziehe mein Buch raus, als nach ca. zwei Stunden der Schaffner kommt. Drei Personen?, fragt er den Typen mir gegenüber. Der nickt, tritt zum zwanzigsten Mal gegen mein Schienbein, klappt die Augen wieder zu.
Welche drei bloß? Die Lady seine Mutter und das Mädchen sein Kind? Das Mädchen und der Junge seine Kinder? Und was ist dann mit der Lady? Keiner hat bisher ein Wort gesagt. Zombies. Verkabelte Untote. Menschmaschinen.
Da nickt der Mann wieder, eine Hundertstelsekunde, und sie stehen auf. Wortlos. Keiner hat also geschlafen. Der Mann und das Mädchen und der Junge.
Letzterer greift sich plötzlich mit einer schnellen Bewegung, die ich bei ihm nicht vermutet hätte, meine Laptoptasche, worauf die alte Lady sehr entschieden sagt: Das gehört der Dame!
Worte, die im Raum stehen.
Und verpuffen.
No reaction. Tür auf. Alle drei raus. Tür zu.
Im Gang sagt der Mann: Bei meiner Mutter gibt’s nie was zu essen. Wir gehen noch zu McDo.
Was war das denn?, sagt die Lady, nachdem die Tür zugefallen ist. Wir lachen, aber irgendwie unfroh.
Die haben jetzt sieben Stunden nichts gesagt. Und sich nicht bewegt. Sagt die Lady, die schon seit Mittag mit der Zombiefamilie das Abteil geteilt hat.
Der hat anfangs nur gegessen. Gekaut und gekaut und niemandem was angeboten, sagt die Lady, deren Weltbild gerade Risse bekommt.
Es dauert zwei Stunden, bis ich aussteige. Bis dahin habe ich ihre Lebensgeschichte gehört und sie die Basics von meiner. Immer wieder fragt sie nach. Sie will es genau wissen. Sie macht seit dreißig Jahren Joga. Das Alter ist schön, sagt sie einmal so nebenbei.
Wenn ich an der Haltestelle stehe, atme ich. In die Schmerzen hinein, sagt sie.
Und davon gehen sie weg?, frage ich.
Manchmal ja, manchmal nein. Sie schaut aus dem Fenster, ins Schwarze.
Ich habe mich gestern wirklich furchtbar über meinen Schwager aufgeregt. Da habe ich auch geatmet, sagt sie.
Als ich meinen Mantel anziehe, bittet sie mich um meine Adresse und sie bittet mich, ihre aufzuschreiben. Sie sehe nämlich fast nichts mehr, Makuladegeneration. (Wie meine Mutter.)
Wenn Sie mich in Düsseldorf besuchen, erzähle ich Ihnen alles über Joga, sagt sie.
Ihre Hände sind warm und trocken. Zugbekanntschaft. Wenn ich Zeit hätte, würde ich sie besuchen. Eine Frau, die dir zeigt, wo es langgehen könnte …

Meine Weihnacht

Donnerstag. Wow! WAS für ein gerocktes Weihnachtsfest! Die ganze Arbeit hat sich GELOHNT. Meine Familie! (diesmal leider nur die halbe Familie). Mein Sohn mit seiner verrückten, süßen Freundin Sabrina: Gutes Gefühl schon, als die beiden nebenan in meinem Arbeitszimmer die Carrera-Bahn aufbauen (unverzichtbarer Bestandteil unseres Heiligabends). Dazu die Boxen aufgedreht mit coolen Christmas-Songs von Esquirel, The Medics, Pet Shop Boys, Annie Maria Lewis, Max Rabe, Erdmöbel, Bad Religion, The Salem Travellers, Marike Jager, Lord Weatherby, The Piano Guys, BAP, The Killers u.v.a.

Während ich noch mit der Vorspeise zugange bin (Avocadocreme, Lachs, Feldsalat, Meerrettichtoast), hocken die beiden am Klavier und klimpern vierhändig vor sich hin. Sekt-Begrüßung, W. läuft noch schnell rüber, um seinen eigenen zu holen, weil er den Freixenet angeblich nicht verträgt, außerdem bringt er den Nachtisch mit: Rote Helene. W. bewundert mein geputztes Silber. Ja, was tut man nicht alles. Überall bling bling, extra für Weihnachten!

Hauptgang: Schwedischer Hackbraten, Ratatouille, Ofenkartoffeln. Und S. erzählt ihre Zirkus-Geschichten. Sie ist tatsächlich in einem Zirkus aufgewachsen (mein alter Kindheitstraum: Mit einem Zirkus gehen), und sie hat wahrlich so einiges erlebt in ihrem jungen Leben. W. und ich lachen uns schlapp, manchmal bleibt uns das Lachen auch im Hals stecken. Das Messer, das sie traf, weil sie vergessen hatte, die Stöckelschuhe auszuziehen, bevor sie in die Kiste stieg, ist nur eine ihrer heavy Geschichten. Prügelnde, hartgesottene, grenzgängerische Verwandtschaft – „Irgendwie waren wir immer die Flodders.“ Aus dem Abstand lustig, mittendrin wohl schwer zu ertragen.

Und daraus, wie ein Wunderwerk, erwächst diese bezaubernde Elfe.

Nachdem W. aus der Mitternachtsmette zurück ist, steckt T. neue Kerzen auf. Die Tanne geht nicht ganz bis zur Decke, ist dafür aber wunderschön gewachsen mit ihren dichten Zweigen zum Behängen mit über die Jahre reichlich gesammeltem Christbaumschmuck in lila, pink, honiggelb und gold.

Dann Bescherung. Die dekorativen Dosen von Mymuesli.de sind mehrfach auf dem Gabentisch vertreten. Feines Öl und Balsamico, feine Badezusätze, Feines aus Olivenholz, Kochbücher, andere Bücher, Süßes, Schmuck …

T. hat Neuigkeiten: Nächstes Jahr ist die Band wieder in Petrosawodsk dabei. Die zweiwöchige Deutschland-Tour hat Geld in die Kasse gespült, die S. nun verwaltet (ein Segen für die Band). Cool: Das neue T-Shirt mit fliegenden Schwalben und Bomben, von T. designed, scheint gut wegzugehen.

Gegen 1 Uhr alle satt, leicht beschwipst, voller Geschichten, beschenkt und zufrieden. T. und S. gehen noch ins Last Resort nachfeiern, W. geht nach Hause und ich telefoniere PM wach …

Sterbende Heros

Montag. Joe Cocker ist tot. Das ist einer, der irgendwie zu meinem Leben gehört. Der darf nicht einfach weg sterben.
Cocker mit seinem irren Tanzstil, mit seiner Sandpapierstimme …
Ich verneige mich vor einem großen Künstler.

Eine große Geste

Der Zentralrat der Juden verurteilt die Pegida-Bewegung und damit jede islamfeindliche Initiative in Deutschland – und stellt sich hinter die Muslime.

Die Angst vor islamistischem Terror werde „instrumentalisiert“, um eine ganze Religion zu verunglimpfen, sagt der Zentralratsvorsitzende Josef Schuster der Welt (20.12.2014). Das sei „absolut inakzeptabel“.

Und weiter: „Hier mischen sich Neonazis, Parteien vom ganz rechten Rand und Bürger, die meinen, ihren Rassismus und Ausländerhass endlich frei ausleben zu dürfen.“

Eine große Geste! Besonders auf dem Hintergrund der jüngsten (Fehl-)Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, die Hamas von der Liste der Terrororganisationen zu streichen.

Ausgerechnet die Hamas, die nach wie vor den Staat Israel mit terroristischen Mitteln bekämpft und nach wie vor die Gründung eines islamischen Staates anpeilt …

Die Causa Edarty

Samstag. Sebastian Edarty guckt sich Bilder von nackten Kindern an. (Oder hat er einfach seinen Finger zu tief in den NSU-Sumpf gesteckt, die eine oder andere unliebsame Frage gestellt, und jetzt wird nach bewährter Art sein Rufmord betrieben?)
Hans-Peter Friedrich ist schon über ihn gestolpert und von seinem Amt als CSU-Innenminister zurückgetreten.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann hat irgendwas gewusst und nach Aussage Edartys die heikle Causa mit dem SPD-Parlamentatier Michael Hartmann bekakelt.
Hartmann seinerseits hat schon seine eigene Affäre hinter sich: Im Juni dieses Jahres bekannte er, sich mit Crystal-Meth verbrauchte Energien zurückzuholen. Kurz gesagt: Er ist ein Junkie der allerhärtesten Kategorie.
Oppermann behauptet, sein Wissen über die Affäre Edarty für sich behalten zu haben. Doch Edarty hat gehört (direkt? über Dritte?), dass Oppermann am Rande der Bundestagssitzung am 17. Dezember 2013 zu Hartmann gesagt hat: „Falls sich Sebastian umbringt, wie positionieren wir uns gegenüber den Medien?“
Von dieser kalten und herzlosen Aussage zeigt sich Edarty entsetzt. Und wirft seinem früheren Fraktionschef menschliches Versagen vor.
Stellt sich die Frage: Wer von den Dreien ist eigentlich der Ekelhafteste? Ich will gar nicht wissen, welche Pornoseiten andere Abgeordnete in einsamen Berliner Nächten konsumieren und wer von ihnen sich welche Pülverchen reinpfeift. Rein statistisch gesehen können Edarty, bzw. Hartmann nicht die einzigen sein. Ich will auch nicht wissen, wieviele unserer Abgeordneten unmenschliche Technokratie mit Politik verwechseln, wie Oppermann es tut.
Sind Politiker ein Haufen mieser Typen?
Jedenfalls hat keiner von denen das Recht, mit Steinen zu werfen.
Überhaupt keiner – egal, wie man die Causa Edarty beurteilt – hat das Recht, über einen potentiellen Selbstmord Edartys zu spekulieren wie über eine dumme Sache, die ein bisschen Ärger nach sich ziehen könnte.
Edarty musste im Februar sein Bundestagsmandat niederlegen.
Warum gehen Oppermann, Hartmann und Konsorten nicht gleich mit …

Die Kings aus einer versunkenen Welt

Jeden Tag diese Nachrichten von einem, fünf, 140, 230 Toten, das ist bedrückend. IS tötet auf allen Kontinenten, man kann sich die Zahlen nicht mehr merken. IS – das ist eine Horde von feudalistisch organisierten Kings. Sie zeigen ihre Waffen, u.a. eine Art Astkniep, an dem noch das Blut vom Fingerabschneiden klebt. Was die Welt von IS zu sehen bekommt, sind primitive Männer im primitiven Gewaltrausch, die ihr primitives Weltbild mit aller Macht erhalten wollen. Sie töten Kinder, weil diese in die Schule gehen. Sie verschleppen Frauen für Sex und für die Küche.
Sie können mit Autonomie und Freiheit nichts anfangen. Das ist bedrohlich für sie. Das macht sie aggressiv.

Opfergang

Freitag. Wenn dein Freund mit dir in Südfrankreich unterwegs ist und ihr an einen Badesee kommt, und zwei Französinnen sind dabei, irgendwelche Freundinnen von ihm – Exfreundinnen, Nursofreundinnen? Nebenherfreundinnen? – während du definitiv seine aktuelle Freundin bist, und die beiden Französinnen ziehen ihre T-Shirts und BHs aus, wie sie es an französischen Stränden machen, und du willst dir deine Sachen auch gerade über den Kopf ziehn, aber dann siehst du, dass die eine der beiden Mädels einen Hängebusen hat, wie es in ihrem Alter nicht unbedingt sein sollte, und sofort lässt du dein Shirt wieder los und bindest dir auch noch umständlich dein Bikinioberteil darunter um, weil die Andere dir plötzlich saumäßig leid tut und weil sie nicht eifersüchtig auf dich werden soll, während dein Typ mit Glotzen beschäftigt ist wegen der beiden halbnackten Frauen und Brüsten, die definitiv nicht deine Brüste sind, ist das dann …

Ja, was soll das anderes sein, wenn du dich dermaßen selbst aus dem Spiel nimmst, als so eine total verdrehte Nummer, so ein Familymuster, aber du denkst, du machst es genau richtig, weil du ja mal wieder so mega rücksichtsvoll bist, und das ist das Schlimmste daran, diese Rücksicht. Dieser Schongang.
Statt einfach mal –

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Eines Tages zeigte M. mir diesen Badesee in Südfrankreich. Mit dabei waren zwei Französinnen, Freundinnen von ihm, die ich nicht kannte.
Exfreundinnen? Nursofreundinnen? Nebenherfreundinnen? Jetztwiederfreundinnen?
Ich jedenfalls war damals seine aktuelle Freundin oder vielleicht waren wir auch schon verheiratet.
Die Französinnen entledigten sich sofort ihrer T-Shirts und BHs, wie es in Frankreich an den Stränden üblich ist. Von Kindheit an FKK-sozialisiert, griff auch ich schon nach dem Saum meines Shirts, um es mir über den Kopf zu ziehen, als ich bemerkte, dass eine der Französinnen einen altersuntypischen Hängebusen hatte. Der Anblick löste einen Schwall von Mitgefühl bei mir aus. Was mich selbst überraschte. Das Mitgefühl war vollkommen unangebracht. (Vielleicht erinnere ich mich nur deshalb daran.)
Nicht nur, dass ich mein T-Shirt sofort wieder losließ, ich begann auch noch umständlich, mir darunter mein Bikinioberteil umzubinden.
Derweil M. mit Glotzen auf zwei blanke Busen beschäftigt war, von denen definitiv keiner mir gehörte.

Sogar in Gestalt von Konkurrenz muss die Mutter geschont werden. (Dr. K.)

Lichtgrenze – Wort des Jahres 2014

Mittwoch. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat entschieden: Lichtgrenze ist das Wort des Jahres 2014.

Es bezieht sich auf die Berliner Lichtinstallation, die an den Mauerfall vor 25 Jahren erinnerte. Über 8000 leuchtende Ballons verliefen entlang der ehemaligen Grenze, die Berlin 40 Jahre lang in Ost und West geteilt hat.

Für drei Tage zeichneten die Lichtballons den Verlauf der Mauer nach, dann schwebten sie in den Himmel davon. Die Wand aus Licht entschwand, so wie 25 Jahre zuvor am 9. November 1989 die Mauer zwischen Ost- und West-Berlin zu verschwinden begann. Die Installation des Künstlers Christopher Bauder verzauberte Hunderttausende Zuschauer.

Die Top Ten im Überblick:

  •  Lichtgrenze
  •  schwarze Null (Ausdruck für die Bemühungen der Bundesregierung um einen ausgeglichenen Haushalt)
  • Götzseidank (Erinnerung an das WM-Siegtor von Mario Götze)
  • Russlandversteher
  •  bahnsinnig (Kommentar zum Streik der dt. Lokführer)
  • Willkommenskultur
  • Social Freezing
  • Terror-Tourismus
  • Freistoßspray
  • Generation Kopf unten (Beschreibung einer Generation, die den Blick permanent auf das Smartphone senkt)

Das Gewinnerwort wurde aus mehr als 2300 Vorschlägen ausgewählt.

Die Sprachexperten der Gesellschaft für dt. Sprache in Wiesbaden wählen jedes Jahr ein Wort, das aus ihrer Sicht das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sprachlich in besonderer Weise begleitet hat. Lauft GfdS stehen nicht die Häufigkeit, sondern die Signifikanz bei der Wahl im Vordergrund.

nach: Spiegel-online vom 12.12.2014