Silvestervorsätze

Mittwoch, B.N. Weniger essen und mehr Sport, gesunde Ernährung, Alkohol- und Zigarettenverzicht, keinen Streit, weniger Stress, weniger Geldausgeben, mehr „Simplify your life“ durch Pünktlichkeit und Ordnung und viel mehr Zeit für sich –

das sind laut Umfragen die häufigsten Silvestervorsätze für 2016. Dass es meistens, nein, immer bei den guten Vorsätzen bleibt, weiß jeder. Warum das so ist, kann man auf diversen Ratgeberseiten nachlesen. Damit es diesmal mit der Selbstoptimierung besser klappt, tu ich das umgehend: Auf der Seite Praktisch Anwendbare Lebenshilfen, kurz: PAL.

Und erfahre, dass unser Scheitern im Wesentlichen daran liegt, dass die Ziele zu hoch gesteckt (25 Kilo in drei Wochen abnehmen) oder zu diffus formuliert sind (gesünder leben). Statt dessen brauche es eine Vision! Ein klares Bild von dem Leben, das ich im neuen Jahr anstrebe. Bei Teilerfolgen sollen wir uns loben und stolz auf uns sein. Wir sollen nichts auf morgen verschieben und akzeptieren, dass Vorsätze umzusetzen keine lustbetonte Sache sei.

Wenn ich mir also die Toplist der guten Vorsätze zu Herzen nehme, denn unterschreiben kann ich sie alle, dann ergibt sich folgendes klare Bild von mir: Ich knabbere an einem Kiwifrüchtchen, während ich mir schon die Tasche fürs FitnessStudio über die Schulter werfe, Lust hin oder her. Meinen Geldbeutel öffne ich nur für das Allernotwendigste. Genervt winke ich ab, wenn ein unwissender Trottel mir einen Grappa oder eine Pina Colada oder gar eine Rauchware anbietet. Meine Wäsche liegt gebügelt und gefaltet im Schrank im picobello aufgeräumten Schlafzimmer. Zu jeder Verabredung stelle ich mich als Erste ein (kach!). Ich sehe und höre weg und rege mich nicht auf, wenn andere Leute, was ja vorkommen soll, Scheiße bauen. Und wenn ich selber Scheiße baue, verzeihe ich mir umgehend. In Summa: Ich bin der Liebling der Krankenkassen. Das durchtrainierte, bewussternährte, alltagsstrukturierte, lasterfreie, kommunikationsgeschulte, stressresistente Cover-Model der Apotheken-Umschau. Da bin ich aber nun doch ein wenig erschrocken!

Doch wie sagt Diplompsychologin Dr. Doris Wolf es so schön:

Die Vorsätze müssen zu Ihnen passen. Machen Sie sich ein fremdes Ziel zueigen, reicht die Motivation nicht aus. 

Okay, ich fange nochmal von vorne an. Am besten bei der Silvesterplanung. Sie beginnt damit, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben nichts geplant habe. Und das ist die Wahrheit: Kein Silvestermenü, keine Leute, keine Party. Das wird ein Jahreswechsel der etwas anderen Art: Essen, Trinken, auf dem Sofa liegen, Fernsehen.

Mein Liebster, da habe ich einfach Schwein, ist einer, der nicht beschimpft werden muss. Streit wird es also keinen geben. Wie macht er das? Er kocht für mich. In regelmäßigen Abständen hält er mir einen Prosecco oder einen Ouzo unter die Nase. Er erzählt lustige Sachen, wenn Grundsatzzweifel mich erfassen, beispielsweise über Ernährung, Pünktlichkeit, Geldausgeben. Wir werden, soviel steht jetzt schon fest, auch im kommenden Jahr Schokolade essen, ich werde unpünktlich wie die Deutsche Bahn sein und wir werden den Euro nicht umdrehen, bevor wir ihn für gutes Essen, Urlaub und das eine oder andere überflüssige Kleidungsstück ausgeben.

Wir werden den ganzen Abend nicht auf die Uhr sehen. Wir werden also Zeit für uns haben. Wenn alle anfangen zu böllern, dann würde auch mein Liebster am liebsten rausgehen und die eine oder andere Rakete in den Himmel abfeuern. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht gucken wir uns noch viel lieber, wie schon in den vergangenen Jahren, unseren Favoriten unter den schönsten Feuerregen am Nachthimmel über B.N. aus.

Danach werden wir uns wieder auf das Sofa oder den Teppich legen und irgendeinen angefangenen Film oder eine angefangene Reportage zu Ende sehen. Darüber werden wir uns gemeinsam aufregen, denn gemeinsames Aufregen macht stark. Mit Sicherheit ist auch noch ein zucker- und fetthaltiger Nachtisch da. Wenn alles aufgegessen und ausgetrunken ist, werden wir nichts aufräumen. Wir werden einen kurzen Blick auf die abgefutterten Teller und Töpfe werfen und die Küchentür schließen.

Und wissen, dass wir direkt in der Nacht zum Neujahr sämtliche Vorsätze abhaken können.

Das ist uns ein Lob wert. Wir sind gut! Wir haben uns viel vorgenommen und viel geschafft. Wir haben uns nicht beirren lassen, wir haben o. g. Vorsätze auch nicht auf morgen verschoben. Sondern sie durchschaut: Sie passen alle nicht zu uns.

Wenn ich diesen Abend gedanklich vorwegnehme, dann erkenne ich, dass mein Verhalten mich jetzt schon positiv verändert hat. Ich habe den inneren Schweinehund von der Leine gelassen. Wenigstens für eine Nacht.

Vision erfüllt.

Schlechte Musik von schlechten Eltern

Dienstag, B.N. Gestern auf der Rückfahrt von Eisenach – satte vier Stunden wegen zäh fließendem oder auch mal gar nicht fließendem Verkehr – auf HR3 die Jahres-Playlist der 52 meistgespielten neueren Titel sämtlicher Radiostationen gehört.

Und nicht umgeschaltet. Weil man immer denkt, next will be better. Wird aber nicht. Alles der gleiche weichgekochte Elektrobrei, megakonventionell und komplett kraftlos. Da denkst du sehnsüchtig an Rockstars zurück, die gerne mal gekonnt ihre E-Gitarren zerlegten – welche E-Gitarren?, die kommen ja gar nicht mehr zum Einsatz! -, da lechzst du nach so einem Aus-uns-wird-nichts-und-ihr-seid-auch-alle-Scheiße-Antisong von den Sleaford Mods. Statt dessen hörst du und willst es kaum glauben, dass Namika vor ausverkauften Hallen singt.

Es ist dieselbe Namika, die da gerade von ihrem Lieblingsmenschen trällert. Und was hat der getan, um ihr Lieblingsmensch zu werden? Er kennt die Protagonistin! Sehr gut sogar. So gut, dass er dafür ein Riesenkompliment verdient. Denn nur bei ihm kann ich ich sein und träumen und verrückt sein. Verrückt? Was ist denn an Namika verrückt? Mit Adele – Hello  – , Robin Schulz, Andreas Bourani, Coldplay, Zara Larsson oder Doppel-W Wincent Weiss – Du am schlafen und ich immer noch hellwach – wird es auch nicht verrückter. Nur immer langweiliger. Scheint’s, keiner von denen steigt mal hinab in jene Regionen, wo Dunkelheit, Desillusion und Wut wabern, um uns, die wir Müsli zum Frühstück essen und unsere Schuhe vor der Haustür ausziehen, von ihren künstlerischen Grenzerfahrungen zu berichten.

Grenzerfahrungen? Hello! Warum das denn?

Von hier – nach da.
Von mir – zu dir.
Bleib hier – bin da, steckt der Wincent seine Grenzen ab. Das einzige, wonach der sich sehnt:
Bis die Tage wieder werden, wie sie früher mal waren. Aah, das ist ja nun an Drögigkeit kaum noch zu überbieten! Man könnte auch sagen: Schlechte Musik von schlechten Eltern. Setzen, sechs! Das deprimiert mich zutiefst. Warum bloß dieses endlose, austauschbare Seifenblasengeblubber auf einem öffentlich-rechtlichen Sender, der doch auch mal den weniger mainstreamigen Geschmack bedienen sollte? David Bowie zum Beispiel. Hat ein neues, ungeheuer abgründiges Album gemacht – hat irgendjemand schon Blackstar im Radio gehört? Wenn es um die Songs des Jahres geht, dann erwarte ich so was in der Playlist des, sagen wir, HR3, allein schon wegen des musikalischen Erziehungsauftrages. Oder Snakeskin von Deerhunter, War in Peace von Sexwitch, The Neverending Sigh von Foo Fighters, mehr von Joanna Newson und alles von Tocotronic. Und, warum nicht, mal einen Titel aus Keith Richards wunderbarem, im September 2015 erschienenen Crosseyed Heart?

Ist das, was HR3 da abspielt, überhaupt Musik für die Mehrheit? Ich schätze, die verschätzen  sich. Musik muss doch auch ein bisschen krank, ein bisschen roh sein, muss weh tun, muss dich verwirren und hypnotisieren oder dich wenigstens ein Stück weit mitnehmen. Musik muss Bilder zum Platzen bringen, Schubladen aufreißen, Explosionen im Kleinhirn auslösen. Sie muss Emotionen und Erinnerungen wecken.

Wincent Weiss‘ Regenbogenlied weckt bei mir nur den Lachreiz. Oder, wenn ich im Stau auf der A5 zwischen Alsfeld und Gambacher Kreuz stehe, den Würgreiz.

Was meint eigentlich mein Lieblingsmensch dazu?

Intensiv und viel

Samstag, B.N. Zieh mir gerade zum zweiten Mal Billy von Einzlkind rein. Mache ich selten, ein Buch nochmal lesen. Jeder Satz ein Gewinn, viele wie eine Berührung von nur angedachten oder schlafenden Gedanken.

Das Fest ist vorbei, der Vorbereitungsstress, die Freuden, die Begegnungen und Abschiede schon wieder Vergangenheit, mit so einer Spur von Ewigkeitsgefühl. Das Filet hatte ich vergessen auf den Tisch zu stellen. Große Pleite. Warum hat W. mich nicht daran erinnert? Hat er etwa gedacht, ich hätte mich UMENTSCHIEDEN? Wegen seinem sagenhaften Zitronenhuhn? OmG, so viele unausgesprochene Gedanken! Jedenfalls der Kartoffelsalat war gut, das Raclette sowieso. W. meinte, Weihnachten er bei mir, das sei nun schon eine Tradition.

Und heute morgen der verblassende Vollmond über den Weinbergen des Ahrtals. Und jetzt scheint die Sonne über der Ahr (über der glitzernden Ahr). Beinahe ein Frühlingstag. Gestern bei unserer Abfahrt waren es in Tübingen 16 Grad.

L. und Familie sind noch bei mir in der Wohnung geblieben, vielleicht sehe ich sie nächste Woche in Köln wieder. B. hat einen schwierigen Job und er träumt sich in allerlei Wachträumen weg… T. und S. hatte ich schon länger nicht mehr gesehen. T. nimmt gerade eigene Stücke ohne Band(?) auf, bin gespannt auf das Ergebnis. Sie alle haben sich so viele Gedanken gemacht bei den Geschenken, sie sind mit guten Gefühlen gekommen, nehmen die Veränderungen in meinem Leben mit Offenheit und Neugier auf, S. hängt sich in ihre Ausbildung, sie will den Abschluss, sie redet Klartext mit T., überhaupt redet sie Klartext, sie erzählt vom Zirkus, wo sie aufgewachsen ist, und wir bestaunen die Eleganz ihrer Bewegungen, mit denen sie ihre unglaublichen, sogar ziemlich skandalösen Geschichten untermalt, sie alle nehmen PM mit großem Wohlwollen auf, sie lauschen seinen Geschichten, die auch exotisch und wie von einem anderen Stern sind, es ist intensiv und viel, es ist so, wie Weihnachten – auch in einer ziemlich kranken Welt – sein sollte.

hard work

Mittwoch. Die Glasscheibe, immer dazwischen, zwischen dir und den Anderen, zwischen dir und der Restwelt, die dich das Andere nie so richtig erreichen lässt, verschwindet nicht allmählich verblassend, sondern wie in einer Bodenfuge, wie die Seitenscheibe im Auto, die auf Tastendruck runtergeht, und du merkst, nach drei Jahren hard work merkst du es plötzlich: Das Leben geht dich wieder an.

Vielleicht ist es genau die Trennscheibe, die dich zum Schreiben bringt. Trennung zu überwinden. Wahrscheinlich war sie schon immer da, irgendwie, nur weniger krass. Könntest du ohne sie schreiben? Anders? Wann fährt sie wieder hoch? Klar, sie wird. Im besten Falle bei Bedarf, und ist ja auch ein Schutz.

Du holst gleich deine Tochter vom Bahnhof ab. Dann geht ihr durch die Stadt, deren Straßen und Häuser dich auch angehen. Der Sack Reis, der nicht in China, sondern hier, an deinem Platz (denn du hast hier einen Platz) umfällt, weil du hier um die Häuser ziehst und lebst und arbeitest … Das zu schreiben, heißt im Leben ankommen.

Alle Jahre wieder

 … und  die Weltpolitik kann mich mal, habe eben meinen Baum fertig geschmückt, wie alle Jahre wieder die ganzen über die Zeit angesammelten Schätze herausgekramt vom Erzgebirge und von diversen fernen Ländern und bestimmt manches auch made in China, Weihnachten ist bei mir Kitsch as Kitsch can oder was andere dafür halten, und sogar Lametta hängt von den Zweigen, jedes Fädchen einzeln angebracht, ja logo das aus Stanniol!, muss ja schwer fallen, was bei Kunststofflametta leider nicht gewährleistet ist, das glitzert und funkelt schon jetzt im Lampenlicht, wie dann erst, wenn alle Kerzlein angezündet sind, und unter dem Baum steht die Krippe, wie’s sein soll, auf der silbernen Weihnachtsdecke, auf der sich die Wachsflecken immer schlechter verbergen lassen, auch das wie alle Jahre wieder, es kann also losgehen …

Unbequeme Fragen

Alle bekannten Attentäter der Anschläge vom 13. November in Paris wurden in Frankreich oder in Belgien geboren. Aus Rache für das Attentat wird jetzt aber in Syrien gebombt. Wieso? Weil die IS-Psychopathen sich dort verstecken, oder weil das eigentliche Ziel Assad ist?

Unwichtig zu erfahren, dass die Waffen der Pariser Terroristen von der Firma „Century International Arms“ in Delray Beach, Florida, stammen? Verrückt! Genauso verrückt wie die Tatsache, dass wegen der NATO-Solidarität der Deutschen mit den Franzosen gerade 1200 dt. Soldaten nach Syrien, bzw. in die Türkei verschifft worden sind.

Und die Türkei – warum weiß die nichts Besseres zu tun als einen russischen Kampfjet vom Himmel zu schießen? Ach ja, weil der sich 17 Sekunden lang über türkischem Boden aufgehalten hat. Das ist schon ein Menschenleben wert. Soviel hat diese Flugraum-Verletzung nämlich gekostet. Zwar konnten sich die beiden russischen Piloten zunächst per Schleudersitz retten, einer wurde jedoch später von Rebellen gelyncht. Syrischen? Türkischen? Und warum überhaupt?

Putin ist seit diesen Vorkommnissen nicht mehr gut auf die Türkei zu sprechen. Wie sollen wir das jetzt wieder verstehen? Berichten unsere Medien doch in schöner Regelmäßigkeit, dass der eigentliche Schuft Putin heißt und nicht Erdogan. Besonders auf das ZDF mit seinen wunderbaren „Dokumentationen“ ist da Verlass, was das öffentliche Putin-Image angeht.

Offenbar kommen diese „Dokumentationen“ aber nicht bei jedem gut an, wie die nachfolgende und überaus lesenswerte Programm-Beschwerde von Anja Böttcher zeigt, die ich hier, obwohl sie verdammt lang ist, im Wortlaut wiedergeben möchte:

*

Betrifft: Programmbeschwerde zur „Dokumentation“ „Machtmensch Putin“ vom 15.12.2015

„Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und der Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.“ § 11 Rundfunkvertrag

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit möchte ich als deutsche Staatsbürgerin und als jemand, der seit mehr als zwei Jahrzehnten mediendidaktisch tätig ist, Programmbeschwerde über die ZDF-„Dokumentation“ „Machtmensch Putin“ einlegen, die allen gesetzlichen Grundlagen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland in eklatantester Weise widerspricht.

Von Beginn an vermittelt die Sendung zu einem großen europäischen Nachbarland, nämlich der Russischen Föderation, nichts anderes als eine grobe Schwarz-Weiß-Karikatur, die das Land in bester anti-kommunistischer Tradition in sensationsheischendem Ton als schreckensstarres Reich der Finsternis kolportiert, das von einem einsam despotisch führenden Diktator mit eiserner Hand herumdirigiert wird, von dem zudem noch die expansive Bedrohung der aggressiven Unterwerfung europäischer Nachbarn sowie die dämonische Absicht ausgeht, die Europäische Union zu zerstören. Dabei war offensichtlich der verantwortlichen ZDF-Redaktion keine unseriöse Effekthascherei, keine Unredlichkeit, ja noch nicht einmal die Lancierung von heute einwandfrei belegten Falschaussagen zu billig. Da die Missstände, die diese Sendung aufweist, zu zahlreich sind, als dass sie in Gänze hier angeführt werden könnten, möchte ich mich auf einige wenige beschränken, die allein hätten ausreichen müssen, um die Ausstrahlung der Sendung zu unterlassen.

Mangelnde Objektivität der Darstellung:
Die unsichtbare russische Invasion

So wird im ersten Drittel der Sendung hinsichtlich Russlands Politik in der Ukraine unhinterfragt die Behauptung kolportiert, die russische Armee sei invasiv in den Donbass eingefallen, obgleich diese Sichtweise weder durch die Berichte der OSZE gestützt wird noch der Darstellung auf den Seiten des Auswärtigen Amtes entspricht. Als einziger „Kronzeuge“ dieser, nach aktuellem Kenntnisstand, nachweislichen Falschaussage zitiert die verantwortliche Redaktion prekärerweise ausschließlich den inzwischen von Obama zurückgepfiffenen Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove. Dieser US-General stieß aber nicht nur der französischen Regierung unangenehm auf, weil er den regelmäßig an die US-Administration weitergegebenen Erkenntnissen der französischen Dienste widersprach.

So erklärte der französische General Christophe Gomard vor der Französischen Nationalversammlung: „Wir haben in der Tat festgestellt, dass die Russen weder Kommandostellen noch Hinterlandeinrichtungen, etwa Feldspitäler organisiert hatten, die ihnen eine militärische Intervention ermöglichen würden.“ Seiner Begutachtung aller Frankreich zur Verfügung stehenden Dokumente zufolge habe es nie einen Hinweis darauf gegeben, dass Russland auch nur eine Invasion der Ukraine vorgehabt habe.
http://www.lecourrierderussie.com/2015/04/russie-envahi-ukraine-renseignements-francais/

Noch ungehaltener über die als gefährlich eskalierend eingeschätzte Rolle des US-Generals zeigte sich die Bundesregierung, allem voran Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der die Äußerungen Breedloves als „gefährliche Propaganda“ einstufte, als er sich zum Zweck seiner Zügelung im März 2015 an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wandte.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/nato-oberbefehlshaber-philip-breedlove-irritiert-allierte-a-1022242.html
http://www.n-tv.de/politik/Deutschland-legt-sich-mit-der-Nato-an-article14654376.html

Schlussendlich wurde der bekanntermaßen den US-Falken angehörige Nato-Chef selbst von der US-Regierung als derart unhaltbar erachtet, dass Präsident Obama ihn zurückpfiff. Und nun zitiert ihn eine sich als „Dokumentation“ ausgebende Sendung des ZDF als unbestechlichen Zeugen „russischer Aggression“? Wie kann so etwas zustande kommen? Ist dies ein Recherchefehler oder eine absichtliche Irreführung der deutschen Öffentlichkeit?

Ausgewogenheit der Darstellung:
Im Herzen der propagandistischen Finsternis

Die Russische Föderation wird in dem Beitrag dargestellt als ein Land, dessen Regierung lediglich aus seinem dominanten und finsteren Präsidenten besteht, der für seine persönliche paranoide Persönlichkeitsstörung ein ganzes Land in Haftung nimmt und aus einer pathologischen Herrschsucht von der Obsession besessen ist, die europäische Union zu zerstören. Hierbei, so insinuiert der Beitrag, stehe ihm ein umfassender propagandistischer Apparat zur Verfügung, der geeignet sei, die offensichtlich für unmündig gehaltenen europäischen Medienkonsumenten zu verwirren. (Dabei müsste das ZDF aus eigener leidvoller Erfahrung mit gut ausrecherchierten kritischen Publikumszuschriften doch wissen, dass die medienanalytisch offensichtlich kompetenten deutschen Zuschauer genau zu beobachten verstehen.) Deshalb wird in alarmistischem Ton gewarnt vor der Manipulation des Internets durch eine ominöse in Sankt Petersburg situierte „Trollfabrik“, die höchstpersönlich der Chef des Kremls überwachen soll. Diese, so versucht der dramatisierende Darstellungsmodus der „Dokumentation“ nahezulegen, sei geneigt, die dunkle Sicht des Kremls auch in Köpfe ahnungsloser europäischer Internetnutzer zu implantieren.

Nun scheint es in der Tat (nicht erst) im 21. Jahrhundert zu der unerfreulichen Komponente der Außenpolitik von Staaten zu gehören, ihre Sichtweise im Ausland nicht nur auf diplomatischem Wege zu vermitteln, sondern auch durch nicht als staatlich erkenntliche Kommunikationspartner innenpolitisch in anderen Ländern in Szene zu setzen, vor allem durch die Nutzung von Internetforen. Dass aber das ZDF davon ausgeht, dass hier Russland eine Vorzugsrolle einnehme und die dem Land unterstellte Neigung zur Desinformation primär mit Russland in Verbindung zu bringen sei, ist eine so abwegige Annahme, dass sie die Intelligenz jedes auch nur halbwegs informierten kritischen Bürgers grob beleidigt.

Ich möchte hier nur ganz dezent auf die sehr aufschlussreichen Relationen hinweisen, die seit den Leaks des Whistleblowers Edward Snowden zum politischen Allgemeinwissen gehören dürften:

Zu Russland: Im Frühjahr 2015 berichteten nahezu alle deutschen Leitmedien mit aufgewühltem Pathos, es gebe in Sankt Petersburg eine Institution, die mehrere hundert Mitarbeiter für einen Lohn von umgerechnet 900 Euro monatlich zwölf Stunden täglich damit beschäftige, im Sinne des Kremls Threads und Kommentare in diversen Internetforen zu posten.
http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/russische-trollfabrik-eine-insiderin-berichtet-a-1036139.html
http://www.focus.de/politik/ausland/propaganda-auf-bestellung-so-funktionieren-putins-troll-fabriken_id_4592188.html
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/russland-trolle-enthuellung
http://www.welt.de/politik/ausland/article145324382/Trollfabrik-Propagandastelle-des-Kremls-muss-zahlen.html

Diese Nachricht traf die damals von heftiger Kritik der eigenen Leser gebeutelten deutschen Leitmedien mit Wucht, löste sie doch große Erleichterung unter den führenden Journalisten der Außenressorts aus, die hierin den Nachweis sahen, es seien nicht etwa deutsche Leser, die die einseitige, manichäisch und dämonisierende Russlandberichterstattung des deutschen Mainstreams kritisierten, sondern nur „Kremltrolle“. Dabei gab die Faktenlage eine solche Deutung überhaupt nicht her: Denn Initialpunkt des Medienhypes um die „Trollfabrik“ war ein einziger Zeitungsartikel der russischen Zeitung Novaya Gazeta um eine in Sankt Petersburg beheimatete Firma unter dem Namen „International Research Agency“. Die Novaya Gazeta selbst firmiert wohl nach dem Verständnis der zuständigen ZDF-Redaktion unter jenen Presseorganen, die die „Dokumentation“ folgendermaßen charakterisiert: „Die Medien sind für den russischen Präsidenten ein zentrales Mittel der Politik. Nur noch einige wenige Zeitungen dürfen unabhängig und kritisch berichten.“ Nun besteht die „Unabhängigkeit“ der Novaya Gazeta in ihrer Finanzierung durch die „Open Society Foundation“ des berüchtigten US-Milliardärs George Soros, dessen Beteiligung an den diversen Farbrevolutionen im Osten Europas selbst von öffentlichen Sendern im Westen nicht bestritten wird, wie es weiland der ORF für das neutrale Österreich bewies.
https://nl.wikipedia.org/wiki/Novaja_Gazeth

Doch selbst dieser wenig als neutral zu vermutende Artikel verweist nur auf die bloße Existenz einer solchen Firma und vermag sie nur dadurch in Beziehung zum russischen Regierungschef zu setzen, indem sie – ohne Beleg hierfür – deren Besitzer Evgeny Prigozhin als „Geschäftsfreund“ Wladimir Putins behauptet. Allerdings werden in dem Text nur Internetaktivitäten in russischer Sprache genannt. Die Behauptung, es habe auch Verfasser von Posts in englischer Sprache und tatsächlich einen (sic!) in deutscher Sprache gegeben, erfolgte erst bei einem späteren, dem „westlichen“ Medienhype folgenden Radiointerview auf Radio Free Europe.

Die Annahme aber, ausgerechnet hierbei handle es sich um eine neutrale Plattform, nimmt passend Paul Schreyer auf Telepolis auseinander:
„Nun ist Radio Free Europe im Kontext einer Debatte um Propaganda sicherlich die am denkbar wenigsten vertrauenswürdige Quelle. Es ist selbst ein Propagandawerkzeug aus der Zeit des Kalten Krieges und wurde nachweislich viele Jahre von der CIA finanziert.“
http://www.heise.de/tp/artikel/44/44596/1.html
http://www.heise.de/tp/artikel/44/44454/1.html
http://www.heise.de/tp/artikel/45/45739/1.html

Vor allem aber wird, selbst wenn man die dürftige Beweislage und die Zweifelhaftigkeit der Zeugen außer Acht lässt, die Proportionalität zu einer anderen politischen Manipulationsmacht derart ignoriert, dass das dramatisierende Schmierenstück über die „Bedrohung durch russische Propaganda“ sich selbst als das entlarvt, was es ist: nämlich ganz besonders billige Propaganda.

Denn selbst die sensationsheischenden Artikel der deutschen Leitmedien unterstellen der in bester Manier des kalten Krieges gezeichneten „Trollfabrik“ lediglich wenige hundert Mitarbeiter. Dagegen kennt seit den Enthüllungen von Edward Snowden so ziemlich die ganze Welt die exakte Anzahl der von der NSA eingesetzten Mitarbeiter zur Manipulation von Internetforen: nämlich glatte 27.000. Das freilich reicht der wissensbedürftigen Agentur für den nach Pakistan am besten überwachten Raum, den deutschen nämlich, aber längst nicht aus, wie folgende Jobanzeige belegt, in der die US-Botschaft in Berlin nach einem/r Mitarbeiter/in sucht, die sich in deutschen Foren unerkannt rumtreiben sollen, um sie zu Gunsten der US-Interessen zu beinflussen. Die Anzeige war für jeden Interessierten offen im Netz einsehbar.

Doch damit nicht genug: Unter den zahlreichen Publikationen von Glenn Greenwald zur Auswertung der Snowden Leaks weisen einige die zusätzlich mehrere tausend Mitarbeiterumfassende Tätigkeit des britischen GCHQ nach, die nicht nur Diskussionen manipulativ formen sollen, sondern sogar zu diesem Zweck den Auftrag erhalten, die Reputation missbeliebiger Personen durch Rufmord, Diffamierung und üble Nachrede zu zerstören, um sie jedes Einflusses auf die öffentliche Meinung relevanter Staaten zu rauben.

Die Bedenklichkeit der Praxis der „Five Eyes“ und der darin wirkenden Gefahr für die Demokratie scheint auch zum Zeitpunkt der Snowden-Leaks dem ZDF voll bewusst gewesen zu sein, wie eine 2014 ausgestrahlte ZDF-Dokumentation mit dem bezeichnenden Titel„Verschwörung gegen die Freiheit“ belegt.

Dennoch erweckt die Darstellung in der „Dokumentation“ den Anschein, als stecke in der nur lausig belegten Annahme, dass der Kreml auch nur wenige hundert Internetaktivisten in Petersburg beschäftige, eine tödliche Gefahr für die geistige Gesundheit der „hearts and minds“ von 80 Millionen Deutschen, während der mehr als zehntausendfach besser ausgerüstete Apparat von Spin-Doktoren „made in the USA“ eine klar dokumentierte Propagandamaschinerie des Pentagons offenbart hat, die sich nicht davon abhalten lässt, die Gesamtheit der deutschen Bürger dauerhaft ihrer Grundrechte nach § 4, § 5 und § 10 des Grundgesetzes zu berauben. Und das sind die realen Verhältnisse.

Der Berichterstattung unseres öffentlich-rechtlichen Rundfunks lässt sich diese Proportionalität der Freiheitsberaubung nicht entnehmen, wenn man die Meldungen zu „Putins Trollfabrik“ in ARD und ZDF liest, die ganz dem Tenor der vorliegenden „Dokumentation“ entsprechen.
https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-77151.html
https://meta.tagesschau.de/id/97251/meinungsmache-im-internet-ex-putin-troll-im-interview
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2389222/auslandsjournal-vom-22.-April-2015#/beitrag/video/2389222/auslandsjournal-vom-22.-April-2015

Ganz anders dagegen lesen sich die Posts der Leser auf der Mediathek unter den oben verlinkten Beiträgen von ARD und ZDF. Wie will man dies erklären? Ist dies auch das Werk „russischer Trolle“? Sollte tatsächlich Moskau der einzige Ort sein, an dem man sich Gedanken um die Auswirkungen eines gigantischen Späh- und Manipulationsapparats des Internets auf die Grund- und Freiheitsrechte deutscher Staatsbürger macht?

Im ZDF scheint man das so zu sehen. Denn auch durch den gleichfalls nur übers Internet in deutscher Sprache zugänglichen russischen Sender RT scheint man dort die Geistesfreiheit der Deutschen gefährdet zu sehen. Das ist nun aber wirklich beachtlich. Da ja nun dankenswerterweise durch den verdienstvollen Sketch der Satiresendung „Die Anstalt“ zu Uwe Krügers empirischer Untersuchung „Meinungsmacht. Der Einfluss von Elitennetzwerken auf Leitmedien und Alphajournalisten“ (2014) bekannt ist, wie sehr transatlantische Netzwerke und Thinktanks zu dafür zu sorgen versuchen, dass der deutsche Bürger nur das für eine Nachricht hält, was mit der Weltsicht der US-Regierung und der Nato vereinbar ist, muss RT ja geradezu über magische Kräfte verfügen, um im unterstelltem Maße die deutsche Gesellschaft beeinflussen zu können.

Denn anders ist es nicht möglich zu erklären, wie das geballte mediale Potenzial US-amerikanischer Provenienz auch nur im Ansatz ausgehebelt werden kann. Zumal die dezent im Hintergrund arbeitenden Eliten-Netzwerke noch zusätzlich durch die ganze Phalanx von Nachrichtensendern (wie CNN, CBS früher Rias oder noch immer Radio free Europe) und die gigantisch Soft-Power-Maschine Hollywood verstärkt werden, die die USA als mächtigste Besatzungsmacht Westdeutschlands in sieben Nachkriegsjahrzehnten auszeichneten. Und was steht diesem Bollwerk entgegen? Ein Internetportal, das – sage und schreibe – drei jeweils halbstündige Sendungen pro Woche ausstrahlt. Die ZDF-„Dokumentation“ spricht hier allen Ernstes von einem „russischen Informationskrieg“ und leidet bitter unter der Angst, die deutsche Gesellschaft könne derart perfider Verführungsmacht doch glattweg erliegen und davor – trotz all der aufopferungsvollen „transatlantischen Fürsorge“ – im Eiltempo kapitulieren. Wäre das aber dann wirklich mit der propagandistischen Finesse des russischen Senders erklärbar? Oder liegt die Diskrepanz zwischen dem Denken des Publikums und den Botschaften USA-affiner Meinungsmacht nicht viel eher daran, dass die Attraktivität transatlantischer Narrative durch Erscheinungen wie die NSA-Totalüberwachung, Foltercamps à  la Guantanamo und Abu Graib, eine endlose Serie völkerrechtswidriger Angriffskriege im Nahen Osten, kurz: durch Elemente also, die in Deutschland seit nun sieben Jahrzehnten nicht so furchtbar hoch im Kurs stehen, erheblich gelitten hat?

Die Unparteilichkeit der Darstellung:
Das unrettbare Böse und die edlen Ritter der Tafelrunde

Jede Schülerin und jeder Schüler, der in Deutschland das Abitur bestanden hat, hat sich im Laufe seiner Schulzeit mindestens zweimal im Deutschunterricht und zweimal im Fach Geschichte mit der nationalsozialistischen Propaganda unter dem einschlägig bekannten Minister Joseph Goebbels vertraut machen müssen. Gelernt hat dieser Mann bekanntermaßen sein Handwerk durch das intensive Studium der aus dem Jahre 1928 stammenden Schrift „Propaganda“ des in den USA lebenden Freud-Neffen Edward Bernays. Die von diesem herausgearbeiteten Merkmale agitatorischer Rede, deren sich die NS-Zeit im Überfluss befleißigte, müssen in textanalytischen Klausuren von Schülern en detail herausgearbeitet werden: wie zum Beispiel der typische Manichäismus, bzw. die auffällige Gut/Böse und Schwarz/Weiß-Dichotomie, der bis in die Verben hinein ein dichotomisches Wording entspricht, die Neigung zur grundsätzlichen Personifikation behaupteter Übel, die Obsession der Dämonisierung des Gegners und der Hang zum übermäßigen Gebrauch von Superlativen. Zudem bemerken die Schüler, wie sehr Agitation und Propaganda permanent auf die Dramatisierung der Darstellung und die dauernde Emotionalisierung der Zuhörer setzen.

Als pädagogischer Effekt wird hierbei intendiert, dass Schüler lernen sollen, einer derart die Affekte ankurbelnden und Nüchternheit ausschaltenden Form der Rede zu misstrauen und auf ihre Intention abzuklopfen.

Schauen wir, das im Hinterkopf behaltend, nur mal auf den Beginn der Sendung, die sich ernsthaft für eine Dokumentation hält: Eine unbekannte Frau sagt auf Russisch zu martialischer Musik: „Er ist stark und charismatisch.“ Dazu die Moderation: „In der Heimat verehrt, im Westen geschmäht.“ Nun hört man General Breedlove: „Putin verhält sich nach dem Motto: Lügen und Leugnen.“ Hierauf folgt martialisch der Titel der Sendung: „Machtmensch Putin“. Etwas später, nachdem der Moderator mit Verweis auf den Syrienkrieg raunend angekündigt hat, „dem Machtmensch Putin geht es in Syrien um mehr“ (als den Kampf gegen den Terror), setzt die Stimme des Focusredakteurs Boris Reitschuster ein:

„Da stecken viele Gründe hinter. Zum einen ist es so, dass er sich als eine Reinkarnation von Peter dem Großen und Ivan dem Schrecklichen fühlt. Er will auf die Weltbühne, will wieder mit den Amerikanern auf Augenhöhe operieren, und er spürt sehr genau, wunderbar, ich denke, er hat einen wunderbaren Instinkt, er spürt sehr genau die Schwäche von andern. Er spürt die Schwäche von Obama und das reizt ihn. Er ist der Spieler, er spürt hier, da kann ich den Platzhirsch machen, hier kann ich es meinem größten Konkurrenten zeigen.“ Nun folgt das Echo des Moderators: „Sein Auftritt soll zeigen: Wir sind wieder stark.“

In einem späteren Ausschnitt leitet der Moderator, nachdem er auch die Wiedereinführung der Melodie der sowjetischen Hymne als Zeichen stalinistischen Machtstrebens gedeutet hat, eine dramaturgisch ähnlich aufgebaute und stilistisch verfasste Textstelle mit dem Satz ein: „Putin der Machtmensch: Er will den Glanz der Zaren und die Macht der Sowjets miteinander verbinden.“ (Ist sich dieser ZDF-Mann übrigens darüber im Klaren, dass auch er bei jedem Fußballspiel die Hymne hört, zu der auch Wilhelm II. und Adolf Hitler strammgestanden haben?)

Etwas später sagt Boris Reitschuster im Zuge einer erneuten intimen Introspektion in die Seele des russischen Präsidenten:

„Wenn man Wladimir Putin, wenn man seine Stimmungslage in zwei Worten beschreiben müsste, dann würde ich sagen: erniedrigt, beleidigt. Es zieht sich durch sein ganzes Leben: Ich bin erniedrigt und beleidigt worden, mein Land ist beleidigt worden, ich muss jetzt wieder Stärke zeigen, ich muss allen zeigen, wie toll ich bin, wie groß ich bin und der Westen hat da vielleicht aus psychologischer Sicht nicht sehr geschickt gehandelt und hätte Selbstbewusstsein aufblühen lassen soll. Und wenn Obama sagt, er ist eine Regionalmacht, dann ist der wie von der Tarantel gestochen, tse, tse, tse, tse, tse.“

– und in diesem Tonfall geht es in einem fort!

Welche Reflexe löst alleine eine solche Bagatellisierung eines Landes und seiner Regierung und eine derart unterirdischer Stil der Mitteilung in einem Sendeformat, das eine Dokumentation darstellen soll, in einem Publikum aus, das prinzipiell von seiner Schulzeit an gelernt hat, pejorativer Rede zu misstrauen? Man fragt sich unwillkürlich: Wurde in solchem Tonfall je über einen englischen Staatschef berichtet? – einem französischen? – einem US-amerikanischen? Oder was würde geschehen, wenn irgendwer es wagte, sich in einem solchen Modus über einen israelischen Präsidenten auszulassen? Nicht auszudenken! Wie kann es aber kommen, dass so etwas im Falle Russlands möglich ist?

Und mit welcher Auswahl von Kronzeugen wird eine derartig missgünstige und sinistre Sichtweise abgesichert? Über die Aussagekraft eines Philip Breedlove habe ich mich bereits zu Beginn des Anschreibens geäußert; was vom langjährigen Focuskorrespondenten Boris Reitschuster zu halten ist, mag man seiner Rede entnehmen. Aber ähnlich voreingenommen zeigen sich auch weitere Personen, die in der Sendung zu Worte kommen. Eine den Passagen Reitschusters vergleichbare Mischung von Dämonisierung und missgünstig-spekulativer, dabei hoch fiktiver Introspektion in die Psyche Wladimir Putins findet sich auch in der ausführlich zitierten Rede der amerikanisch-russischen Aktivistin Masha Gessen, die mit ihrer Familie bereits 1981 14jährig aus Russland emigrierte und 2012 eine gallig-zornige Biographie mit dem Titel „Der Mann ohne Gesicht. Wladimir Putin“ schrieb.

Schaut man sich die Anzeigen hierauf, stellvertretend für andere Plattformen, auf Amazon.de und Buecher.de an, so fällt auf, dass die dort verlinkten positiven Rezensionen der Leitmedien auffallend mit den eher niederschmetternden Kommentaren der Leser kontrastieren, die dem Buch attestieren, außer einer ausgiebigen Beschimpfung der von ihr portraitierten Person nichts zu bieten, als was die westliche Tagespresse eh mantrahaft von sich gibt. Auch hier ist, wie bei allen anderen interviewten Personen, eine einseitig abschätzige Sicht auf den Gegenstand der „Dokumentation“ vorprogrammiert.

Nun ist es aber nicht so, dass es andere Beurteilungen in Deutschland nicht gäbe. Vormals oft interviewten Russlandexperten, die jedoch ab 2013 merklich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kürzer treten mussten, fallen langjährigen Zuschauern da zuhauf ein: zum Beispiel Christian Wipperfürth, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Angelegenheiten, Alexander Rahr, der Projektleiter beim Deutsch-Russischen Forum, Mathias Platzeck, der ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg, Mitglied des ZDF-Verwaltungsrats und Vorsitzender des Petersburgers Dialog, der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, Gabriele Krone-Schmalz, die ehemalige Russlandkorrespondentin der ARD und Professorin für Journalistik oder der mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Helmut-Schmidt-Journalistenpreis ausgezeichnete Auslandskorrespondent der ARD Hubert Seipel. Keiner dieser Personen kommt als Kontrapunkt in dieser unwürdigen Sendung vor, die offensichtlich nichts als bloße Stimmung erzeugen will – und zwar eine hochgradig bösartige.

Es ist den Zuschauern ziemlich klar, dass mit Sendungen dieser Art für eine generelle politische Richtung – und zwar eine geopolitische Ausrichtung Deutschlands geworben werden soll und zwar eine strikt transatlantische. Eine solche gab es in der Bundesrepublik Deutschland schon immer. Ihr stand immer mit vergleichbarer Stärke eine eher kontinentaleuropäische oder – wie sie in den 50er und 60er Jahren genannt wurde, eine gaullistische entgegen. Durch Sendungen wie die obige wollen ganz offensichtlich die Macher, die genau diese Richtung vertreten, diese als „alternativlos“ in die Köpfe der Menschen hämmern. Einer solchen Einseitigkeit dürfte, wie sich dem oben zitierten Gesetzesausschnitt des Rundfunkvertrags entnehmen lässt, ein öffentlich-rechtlicher Sender in Deutschland nicht folgen. Doch selbst wenn man hiervon absieht, ist eine derart sichtbar tendenziöse Haltung darüber hinaus denkbar ungeschickt und stößt eher ab:

In Verbindung mit der NSA-Totalausspähung, dem permanenten Konfrontationswillen gegen ein Land, gegen das wir schon in zwei Weltkriegen blutig gehetzt wurden, und dem permanent von Washington aufgebauten Druck, eine immer stärker militarisierte Außenpolitik gegen die Länder im Nahen Osten mitzumachen, erreicht solche Propaganda das Gegenteil von dem, was sie erreichen will: Die Nation, an deren Interessen offensichtlich die deutsche Gesellschaft gekettet werden soll, wird den Menschen hierdurch immer unsympathischer.

Nicht die, die da portraitiert werden, sondern die, die ein anderes Land und dessen Regierung derart primitiv und menschenverachtend portraitieren, erscheinen den Menschen nämlich immer mehr als tödlich-totalitäre Bedrohung. Denn wer demokratischem Denken verpflichtet ist, versucht doch Menschen nicht derart emotional zu beeinflussen?

Diese Sendung war wie die ähnlichen Stils, die ihr vorangingen, übergriffig – auch und gerade uns als Zuschauern gegenüber.Ich protestiere hiermit entschieden dagegen, für so einen Schmutz Rundfunkgebühren entrichten zu müssen.

Ich bitte also Sie, liebe Mitglieder des Rundfunkrats, sich mit der Frage zu befassen, ob ein solcher Fehlgriff mit den gesetzlichen Grundlagen des Rundfunkvertrags vereinbar ist.

Mit freundlichen Grüßen

Anja Böttcher

Im Supermarkt

Sonntag. Wenn wir in die Kelter gehen, bestellt PM gerne mal eine ganze Flasche Sekt. Die Gläser seien so schnell leer, erläutert er und spielt ein bisschen den Bestürzten. Sein Trinkgeld fällt dann genauso großzügig aus.

Der zweistündige Einkauf vorher im Supermarkt hat sich gewaschen: Zwei Wagen voll für zwei Weihnachtsfeiern, eine bei mir und eine bei PM. Während wir durch die Gänge schieben, aufsteigende Panik: es könnte nicht reichen, der Einkaufszettel sei nicht vollständig, und vielleicht doch noch eine Eispackung mehr und bloß keine leeren Schüsseln auf dem Tisch … Manche Regale waren LEERGEKAUFT. So gab es kein Lübecker Marzipanbrot mehr!

Weihnachten ist, wenn man viel isst

Freitag. Mit W. eine deckenhohe Nordmanntanne geholt. Sie steht schon im Zimmer, breitet ihre Äste in alle Richtungen aus, kratzt mit den Spitzen am lichterkettenbehangenen Ölportrait der beautyful Lady in Black, meiner Großmutter Vieregge, und duftet nach – Badedas.

W. ist an Weihnachten wieder dabei, und er bestimmt maßgeblich das Essen mit: Kartoffelsalat und Würstchen dieses Jahr nicht mit mir!, sagt er und wackelt bedrohlich mit dem Zeigefinger. Er wird also ein Zitronenhuhn bei sich zuhause kochen und mitbringen. Da aber auch mindestens zwei Vegetarier dabei sind, wird es Raclette geben, für die Nichtvegetarier eingelegte Filetscheiben zum Grillen und für PM – in großen Mengen und hoher Qualität – Kartoffelsalat mit Würstchen.

Morgen heißt es, für acht Leute einkaufen. Mit Geschenken bin ich durch, die Ruhe stellt sich langsam ein. Die peacefulle Weihnachtsruhe.

*

Gestern noch einen eskaliererten Konflikt mit dem Leitungsteam um die Einführung einer neuen U-Methode ausgetragen. Dann fliegt uns der ganze Laden um die Ohren!, dramatisiert die Kollegin, die es eigentlich besser wissen müsste, und kriegt rote Flecke im Gesicht. Heute ist die Sache zu meinen Gunsten von oben entschieden worden. Nichts ist geflogen. Bis auf die Haare meiner Kollegin. Die neuerdings einen leichten Blaustich haben. Wie früher bei den Engländerinnen zu beobachten, Queen Mum und so.

Weihnachtsgefühle. Bei 13 Grad plus und so einer Art Frühlingssonne-Vorspiel.

o. B.

Donnerstag. Jetzt: wo alles vorbei ist –
die schlimmen Sitzungen in muffigen Anwaltbüros, Gerichtssälen, im Notariat, die nicht vermeidbaren Begegnungen mit dem Protagonisten meines alten Lebens, die Angst um meinen Wohn- und Lebensraum:
Zustand von Schwäche, Zerbrechlichkeit – ich vermag die Worte kaum zu schreiben – ein verhasstes Gefühl, das ich nicht zulassen will. Drei Jahre die volle Konzentration auf Starksein, Wachsein, Sich-nicht-einmachen-lassen, Kopf hoch und Krone richten, egal, wie oft sie runterfällt und wie schief sie auch sitzt.
Jetzt: tuts hier weh und da stimmts auch nicht, allerlei Untersuchungen, den Tatsachen ins Auge sehen, na klar, immer doch und bloß nicht wehleidig.
Alles ohne Befund, bisher, zum Glück,
jetzt: bloß nicht krank werden, OmG!, ich hab doch noch so viel vor –
Ich fange doch gerade erst an –