Tü aus der Ferne

Freitag B.N. Mitternacht durch, bis eben korrigiert. Fernseher an: Boris Palmer mit Wollschal um den Hals. Steht auf dem Tübinger Marktplatz und redet über das Böllerverbot in der Altstadt wg. eines schlimmen Brandunfalls vor zehn Jahren. Ich mag BP, er setzt sich gerne in die Nesseln, er weiß, wann er recht hat, und steckt nicht zurück. Er hat ziemlich oft recht und manchmal auch nicht, dann gibt er es zu (Blätterwand Mühlstraße). Er hat keine Angst vor dem Urteil anderer, das unterscheidet ihn von vielen. Ich bin froh, dass ich ihn für ein Gespräch gewinnen und er Teil meines Buches werden konnte. Er labert nicht rum. Er hat etwas zu sagen, auch zum Thema Tod und Trauer.

Lass uns über den Tod reden – Monika Ehrhardt-Lacomy

“… Und auch die Kleinsten der Kita wissen, wer Lacky ist. Die kennen sein Bild und seine Lieder, die reden sogar mit ihm, als wäre er noch hier. Für mich ist das ganz normal. Ich glaube, es gibt viele Areale im menschlichen Gehirn, die leer stehen, weil wir Angst haben, sie zu nutzen. Die Leute, die mir immerzu einreden, ich soll den Lacky endlich loslassen, die haben vielleicht auch nur Angst.”

Das sagt die dt. Schriftstellerin und Drehbuchautorin Monika Ehrhardt-Lakomy in meinem im März 2019 erscheinenden Buch Lass uns über den Tod reden (Chr. Links Verlag). Seit dem Tod ihres Mannes Reinhard Lacomy widmet sie sich dem Erhalt und der Weiterführung seines umfangreichen musikalischen Lebenswerkes.

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Hass. Mein Weihnachtstext.

Montag. Unfertige Persönlichkeiten hassen. Vor paar Tagen eine unheimliche Begegnung der dritten Art. Sie kulminierte für mich in der sehr leisen, wie zu sich selbst gesprochenen, höchst unkontrollierten, höchst unsachlichen, aber längst in den tiefsten Untiefen rumorenden (und eben nicht gereiften, im Sinne von erwachsenen) Äußerung, gegen mich gerichtet: “Nein, Sie stehen auf andere Sachen.”

Andere Sachen …. hmmm! Abgesehen von den Bildern, die hinter dieser Äußerung stehen mögen (und die ich nicht kennen will), ist es dieses Andere, dass rot und aggressiv leuchtet. Wie kann eine anders sein? Als der große alte Mann, der Kohlhaas, der schon so viel größere Schlachten geschlagen hat? Wie kann eine andere professionelle Wege einschlagen, die dieser große Unangreifbare sich nicht einmal vorzustellen vermag?

Ich saß in einem geschützten Raum, umgeben von nicht unkritischen, jedoch auf meine Arbeit und mein Können und Wissen vertrauenden, kollegial verbundenen Menschen. Doch auch ohne diesen wohlwollenden Schutz hätte ich die Situation bewältigt. Ich war vorbereitet.

Ich glaube, als eine Person, die etwas von sich und der Welt will, stellst du immer eine Provokation dar. Als Frau, die zu dem Zweck Verstand und Rhetorik einsetzt und außerdem auf schöne Schuhe steht – auch so ein Ding – , bist du eine noch größere Provokation. Die größte aber ist es (für unfertige Menschen, und mögen sie biologisch noch so alt sein), ein Buch zu schreiben. Das ist Öffentlichkeit. Wie kann die es wagen?

Einmal hat sich einer auf irgendeiner Feier so von hinten an mich ran gerobbt, ich kannte den gar nicht, und sagte ganz leise (die leisen Töne sind die entlarvendsten): “Du veröffentlichst ja deine Texte. Dann findest du wohl, dass du gut schreiben kannst?”

Solche Sätze, die von nichts als einer grenzenlosen Unwissenheit zeugen, sollte man im Raum stehen lassen. Nicht kommentieren. Die arbeiten von selbst. Für dich. Du kannst es direkt sehen. Die lassen den Absender in seiner ganzen Erbärmlichkeit stehen und fliegen dir zu.

An solchen Sätzen, an solchen Situationen wächst du, wenn du es zulässt.

Ja, ich stehe auf andere Sachen.

Work but no Christmas

Sonntag. Was ist das für ein schöner bürgerlicher Beruf, den ich habe? Ich lerne immerzu dazu, darf das Wissen an andere weitergeben, habe jeden Tag mit tollen, inspirierenden Menschen zu tun. Auch die fremdbestimmten Anteile horizonterweiternd, naja, meistens. Was mir heute am frühen Morgen auffällt: komischerweise gab es unter den Jugendlichen, mit denen ich arbeite, noch nie einen, den ich nicht leiden konnte. Es gibt aber durchaus Leute, die ich nicht leiden kann. Was einmal mehr beweist, dass es deine eigene Einstellung ist, die die Emotionen bestimmt.

Weihnachten fällt dieses Jahr, wie auch schon der Sommerurlaub, aus. Aus denselben Gründen. Ich schaffe es nicht. Die abgespeckteste Version, die man sich überhaupt vorstellen kann. Kein Baum! Damit muss ich erstmal fertig werden. Baum nimmt zuviel Zeit in Anspruch. Weihnachten diesmal nur zu viert: PM, ich, T. und neue (?) Freundin. Eine Italienerin, die kein Deutsch spricht. Englische Konversation sei erwünscht, hieß es. Bin gespannt, wie PM und ich uns durch den Abend holterdipoltern, unser beider Englisch ist grottenschlecht.

Auch der gemeinsamen Weihnachts-Tradition mit W. habe ich dieses Jahr eine Absage erteilt, mit einem miesen Gefühl im Herzen … Zumal meine liebe L. ist mit Family für fünf Wochen in Brasilien bei B.’s Schwester.

PM hat gestern die Ente und die Rindsrouladen in meiner Küche vorgekocht (sch…lecht!, die war nämlich schon großgeputzt …). Fährt heute mit Tupperschüsseln ausgerüstet nach Eisenach zu Old Dad, wo er bis morgen bleibt. PM kocht so gut und mit so einer Show-freien Lässigkeit, dass ich ihm immerzu begeistert zusehen könnte. Wie er die Rouladen bestreicht und einwickelt … wie er die Haut abtrennt … wie ein Chirurg Hand an Essen anlegt …

Ich muss wieder an den Schreibtisch. Bis März ist jede Sekunde verplant, und das ist keine Übertreibung.

Zechentod

Freitag. Zeche Prosper Haniel in Bottrop schließt heute. Damit geht die Ära der Steinkohleförderung im Ruhrpott zu Ende. Auf der Kohle hat die Stahl- und Eisenindustrie aufgebaut, sie hat Generationen von Bergleuten stolz gemacht und das Ruhrgebiet groß. Rund 230 Jahre Industrie sind Geschichte.

Vor dem Bundesliga-Spiel FC Schalke 04 gegen Bayer 04 Leverkusen wurden die Kumpel gebührend verabschiedet (ja, auch den Fußball hat die Kohle groß gemacht). Der Bergmannschor der Ruhrkohle-AG und über 60.000 Fans sangen gemeinsam Glück auf, Glück auf, der Stei-ger kommt. Da flossen die Tränen …

Das Steigerlied kann ich im Schlaf. Viele Erinnerungen … mein Vater redete beim Mittagessen von Prosper Haniel, Monopol, Grimberg 3/4 … wie ich heute vom Unterricht oder PM von einer schwierigen OP. Zechen einschließlich Grubenunglücke gehörten zum Alltag, alle Väter aller Freund*innen waren in irgendeiner Weise bei der Ruhrkohle beschäftigt. Meine Kleiderschränke kommen aus einer RAG-Schreinerei, meine Frühstücksbrettchen auch. Schlüsselanhänger und Zettelkasten sind RAG-Werbeartikel mit Steinkohlestückchen in Kunstharz verewigt, und im Keller liegen irgendwo noch alte und ganz alte Grubenlampen und der weiße Grubenhelm, mit dem hat T. im Sandkasten gespielt …

Der letzte Zechentod macht mich einfach nur traurig.

H.H.

Donnerstag. Die Beschäftigung mit Hesse stellt sich immer wieder als eine lohnende Sache dar. Zwar ist gerade der Steppenwolf in seiner ganzen Eitelkeit und – in der Literaturgeschichte wahrscheinlich einmaligen
– Ichbezogenheit auch nervig, doch als ein relativ frühes Zeugnis der Auseinandersetzung mit der Wirkung von Psychoanalyse ist er unbedingt erhellend. Obwohl der Protagonist Harry Haller so ein Selbstzweifler ist, statuiert der Roman ein Exempel für Zweifelsfreiheit. Für Unbedingtheit. Für Rigorismus. Ein sehr konstruiertes Stück Literatur, für Jugendliche viel zu schwer, nur in Ansätzen durchschaubar, was z.B. die literarische Verarbeitung von Fetisch-Theorie und Nietzsche-Theorie angeht, aber es lässt sich auch mit abgespecktem Vorwissen lesen. Man liest ja nie mit komplettem Vorwissen. Man sollte so viele Bücher zweimal lesen …

Die Litanei vom Behördenversagen

Mittwoch. Die Gefährderliste, die der französische Geheimdienst führt, registriert plus-minus 20.000 Dschihadisten. Das sind 20.000 Jungmänner, die irgendwo irgendwann ihren großen Auftritt haben könnten. Waffen, Chemikalien, Geld scheinen ihnen ohne Ende zur Verfügung zu stehen. Auch dieser – mittlerweile von der Polizei erschossene – Chérif Chekatt, der kürzlich auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt um sich geballert hat, war IS-“Soldat” und als solcher dem Aufruf zum Mord gefolgt, so IS-Propagandasprachrohr Amaq.

Chekatt war polizeibekannt, hatte schon eingesessen, im Knast war er den Mithäftlingen durch Missionierungsversuche zu seinem Glauben aufgefallen, auffallend auch der dunkle Fleck auf seiner Stirn, der vom vielen Beten und frommem Kopf-auf-den-Boden kommt, ein Statussymbol der Religiosität.

Die französischen Behörden haben den Mann falsch eingeschätzt, heißt es. Er war wohl gefährlicher als gedacht. Ein Krimineller – in diesem konkreten Fall ein 27 Mal verurteilter Messerstecher, Einbrecher und Räuber – ist eben noch kein Terrorist, das macht die Sache kompliziert. Die Behördenschelte, die seit dem Vorfall eskaliert, wie es beinahe rituell nach jedem solcher Vorfälle geschieht, überzeugt mich nicht davon, dass alles gut werden würde, wenn nur die Behörden besser arbeiten würden. Wie soll das gehen? Wie soll die behördliche Überwachung von 20.000 Männern aussehen, die den oberautoritärsten Auftrag und den festen Willen haben, Bürger aus Mitgliedstaaten der „Anti-IS-Koalition“ (Amaq), also so ungefähr der ganzen Welt, hinzurichten?

Den französischen Behörden galt Chekatt als Fall fürs Präventionsprogramm, jedoch nicht als einer, der den Staat gefährdet. Geheimdienste können Bewegungen kontrollieren, aber sie haben nicht die Macht, die Gedanken der Verdächtigen zu röntgen.

Das finde ich sehr beruhigend. Die Sache mit dem Behördenversagen werte ich als Rhetorik. Oder wie stellen Leute, die diese Platte auflegen, sich ihre Behörden vor?

Die Schuld liegt nicht bei den Behörden. Sie liegt bei den Tätern.

3. Advent

Sonntag, B.N. Nach viel Arbeit fürs “Amt” abends im Bell’s. Viel Weihnachtsmarkt, viele Menschen, viel Krach, viele besoffene Weihnachtsmänner. Die purzeln nach Mitternacht durchs Stadttor auf  die Straße. Restkräfte, sagt PM. Es seien heute an die 200 Busse in B.N. gelandet, verkündet Doris. Die Leute kommen, kaufen und saufen. 

Advent

Montag. Am 2. Adventssamstag Brunch mit Steve, Gisela, irgendeiner Verwandten von ihr und natürlich PM. Gemütlich, informativ, kuschelig, anregend. Dabei bin ich noch zu keiner Advent-Deko gekommen, nichts weist auf die Jahreszeit hin außer einem Weihnachtsstern von PM. Den hat er zwei Wochen davor mitgebracht, ein Prachtexemplar vom Blumenhändler statt von Lidl/Aldi/Edeka. Leider ist er jetzt nur noch ein Gerippe mit roten Restblüten. Der Schöne hat schlagartig sämtliche Blätter abgeworfen, nachdem ich die Balkontür eine Weile offen stehen hatte, was ein Weihnachtsstern nicht mag. Schade. Die alljährlichen drei mal 24 Adventspäckchen gehen dieses Jahr zeitlich versetzt raus, da L. und Familie Ende November für fünf Wochen nach Brasilien geflogen sind, während T. auf einer noch ferneren Insel im Indischen Ozean tauchen geht. Weihnachten wird dieses Jahr im kleinen Rahmen stattfinden. Alles steht unter dem Zeichen der Buchpremiere, die seit heute auf den 28. März 2019 terminiert ist. Ich freue mich, dass Osiander es macht. Derweil kommen vom Verlag allmählich die sehr sorgfältig lektorierten Kapitel rein. Einfügen annehmen, Einfügen ablehnen. Löschung annehmen, Löschung nicht übernehmen … wenn das erst vorbei ist! Ich glaube, nein, ich weiß, dass das Buch überzeugen wird. Für seine nachhaltige Wirkung stehen die 18 unglaublich vielschichtigen, berührenden, nachdenklichen, manchmal traurigen und manchmal sogar komischen Geschichten über die persönlichen Erfahrungen mit dem Tod und der Trauer und dem Leben danach … 

Und das nächste Projekt steht auch schon. Ein Gemeinschaftsding, eine Idee von PM. Sie ist einfach nur gut. Muss mich direkt zusammenreißen, dass meine Gedanken nicht dauernd vorauseilen, diese Sache ist noch nicht dran …

Abends in der LTT-Kneipe haben wir aber schon mal einen Masterplan erstellt. So plötzlich wie die Idee da war, so konkret ist sie.