Mittwoch, Tübingen. Die Stille nach dem Ansturm.
So viele Überlegungen und Aktionen, Einkäufe, Betten beziehen, wieder Einkäufe, und wieder fällt dir irgendwas ein, das noch fehlt … und dann ist es soweit, der Baum geschmückt, die Gästezimmer aufgeräumt, der Tisch festtagsmäßig gedeckt, und PM trifft mit dem Hauptgang ein, den er – nach langem, unerfreulichen Vaterbesuch – in Eisenach zubereitet hat, und endlich sitzen wir alle um den Tisch herum, alle außer meiner lieben L, die in der Klinikambulanz darauf wartet, dass sich jemand ihres besorgniserregenden Problems annimmt, das sie schon so lange quält und heute wieder. Die Bescherung ist schon vorbei, weil die Kinder es nicht mehr ausgehalten haben, und die Freude über all die wohlwollenden Gedanken, die hinter jedem Geschenk aufleuchten, und der Sekt tut so himmlisch gut wie selten, und aus diesem heiteren Himmel folgt eine lange, ungerechte Diskussion, als nach Mitternacht alle weg oder im Bett sind, und PM antwortet nicht und am nächsten Morgen sieht die Welt, weshalb auch immer, plötzlich anders aus, und das ist der 1. Weihnachtstag, der Change, der den Tag erst so richtig schön macht, so wie Weihnachten sein soll, mit den Kindern, die PM über die Schulter schauen, weil er irgendein PC-Spiel startet, und meiner lieben E., die auf einmal Deutsch spricht (vorsichtig und schüchtern), und sie und T. und Baby Z. sind so was wie eine mini heilige Familie, das macht mich glücklich. Das Tchen und das Lchen machen mich sowieso glücklich mit ihrer Zutraulichkeit und ihrer Klugheit, mit der sie mich jeden Tag überraschen.
Es ist ein nie ganz reines, zerbrechliches Glücksgefühl, eher eine Art Melancholie in hellen Farben. Immer die Frage: Hast du alles getan, was für sie wichtig ist? Hast du alles gegeben, was sie brauchen? Nie, nie. Immer diese SchlechteGewissenSpur, die da mitläuft, weil sich rückblickend so glasklar erkennen lässt, wo du gefehlt hast.
Wo fängt das Nerven an, und wo scheinst du mit Blindheit geschlagen? Wo ist die Grenze zwischen ich und du?
Kategorie: 2023
Passt
Sonntag, Tübingen. Ruhige Tage in meiner ersten Heimat. Ich genieße meine Wohnung. Sie ist gemütlich. Sie ist so, wie ich sie haben will. Alles passt.
Wie immer ist die Schreibwerkstatt inspirierend, wir sind eine fröhliche, ernsthafte Truppe.
Tübingen ist unerträglich voll. Die Leute schieben sich durch die Gassen: Weihnachtsmarkt. Eine Bude an der anderen mit unvorstellbar sinnlosem Krempel (wie schön dagegen die Eisenacher Weihnacht). Dazwischen nervige Blockflötenquälgeister, die beharrlich Stille Nacht mit h statt b versauen, und Erwachsene im Kaufrausch.
Mecki und ich verziehen uns mit einem Becher Glühwein in eine Ecke und beobachten Passanten und lästern ein bisschen ab (macht uns nicht gerade zu besseren Menschen, tut aber hin und wieder tut).
Ich schreibe viel, hab vor wenigen Tagen einen neuen Gesprächspartner für mein Buchprojekt gewonnen, der mir immens wichtig ist. Beinahe einen Tag lang hab ich an seiner Interviewanfrage gebastelt. Und tadaaaa!, tags darauf kam die Zusage!
Hier fragen mich alle, wie es so ist „im Osten“. Ich weiß genau, dass einige nur darauf warten, dass ich meine Entscheidung bereue und zurückkomme. Ich bereue gar nichts. Ich will beides. Meine Entscheidung für Eisenach ist keine gegen Tübingen. In meinem Leben war schon immer alles irgendwie doppelt. Das ist eben so, scheint zu mir zu passen. Überhaupt fühle ich mich in letzter Zeit so passend. So eins mit der Welt. Hat man ja auch nicht alle Tage, dieses Gefühl.
Enttäuscht, nicht überrascht
Montag, Eisenach. Deutschland und die EU lehnen den Beschluss-Entwurf der 28. Weltklimakonferenz, kurz COP28, ab.
Wie können klimabewusste EU-Politiker*innen diesen Entwurf auch NICHT ablehnen, fragt sich die unwissende, aber interessierte Bürgerin? Nachdem sie vernommen hat, dass den Vorsitz der heute beendeten Weltklimakonferenz in Dubai ausgerechnet Sultan Ahmed Al Jaber innehat, seines Zeichens Minister für Industrie und Fortschrittstechnologie der VAE und CEO der Ölgesellschaft Abu Dhabi National Oil Company? Welches Interesse sollte der CEO einer Ölgesellschaft denn an einer weltweiten Reduzierung des Ölverbrauchts haben?
Außenministerin Baerbock zeigt sich enttäuscht von dem Textentwurf – der leider kein Wort vom weltweiten Ausstieg aus fossilen Energien enthält. Auch Ölstaat Saudi Arabien will von einer Emissionsminderung zugunsten des 1,5Grad-Ziels nichts mehr wissen.
Dazu sind die Vertreter*innen von 198 Vertragspartien und von über 3000 internationalen Organisationen und NGOs, also geschätzt 20.000 Leute, nach Dubai geflogen – um, wie zu erwarten, enttäuscht zu werden?
Inspiration
Sonntag, Kiel. Inspirierende Gespräche mit Blick auf den Fährhafen, viel Essen und Trinken, kluge Reden und diverse Wiedersehen. Ein Sonntag, wie er mir gefällt …
Stillleben „Party“
Meer und Möwen
Sonntag, Kiel. „Ist aber nichts gegen den Bienenstich von Bäckerei Mattla„, sagt PM und beißt deshalb nicht weniger genüsslich in den Bienenstich von Konditorei Fiedler in der Dänischen Straße.
Mattlas legendäre Backkunst ist zum running gag bei uns geworden. Zwar existiert die Bäckerei schon ewig lang nicht mehr und kaum ein Eisenacher kann sich an sie erinnern, doch gegen PMs tiefsitzende Kindheitserinnerungen kommt kein Stück Kuchen, kein Brötchen an. Wir sind in Kiel zum Geburtstag meines kleinen Bruders. Gestern Bummel durch die sogenannte Altstadt, verschiedene Dinge erledigt und abends mit Beret ins Ahoi. Wir fragen nach Steffen Henssler, aber der sei, nach Auskunft der supernetten Bedienung, noch nie hier gewesen.
Frühmorgens mal eben so vom 6. Stock des Hotels aus dem Geschrei der Möwen zu lauschen und über die nebelverhangene Förde ins offene Meer zu schauen – sehr speziell!
Pisa und kein Ende
Dass deutsche Schüler*innen im internationalen Vergleich der PISA-Studie so miserabel abgeschnitten haben wie nie, würde die unwissende, aber interessierte Bürgerin vielleicht wundern, wenn sie nicht selbst im dt. Bildungssystem beschäftigt wäre.
6116 15-Jährige nahmen an der Studie 2022 teil, um vor allem ihre Mathe- und Lese-Verständnis-Kompetenz unter Beweis zu stellen. Insgesamt waren es fast 700.000 Jugendliche aus 81 Ländern.
Die Bildungsminister*innen sind nun wieder schockiert und sehen Handlungsbedarf. Den gab es auch schon nach der letzten PISA-Studie 2018. Passiert ist nichts.
Die Presse wird bei dem Thema mittlerweile konkreter. Nicht nur zwei lange Lockdowns haben für immense Wissenslücken gesorgt, sondern vor allem der hohe Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund, der ein Unterrichten nach normalen Standards oft verunmöglicht.
Unter normal verstehe ich: Das für die jeweiligen Klassenstufen vorgesehene Lehrwerk kann im Unterricht eingesetzt werden, und die von den Bundesländern festgelegten Kompetenzen lassen sich wenigstens teilweise erfüllen.
Beides ist aber leider absolut nicht der Fall. So verwende ich derzeit in Klasse 9 Materialien aus Klassestufe 6. Und von den stufenspezifischen Kompetenzen sind wir meilenweit entfernt.
Hinzu kommt, dass die musischen Fächer nur noch rudimentär oder gar nicht unterrichtet werden. Ihr Wert für die Entwicklung ganzheitlichen Wissens wird katastrophal unterschätzt! Hier kann man gar nicht mehr von Wissenslücken reden, sondern von absolutem Nichtwissen.
Wenn die zum Thema PISA befragte Ulrike Herrmann gestern Abend bei Markus Lanz sagt, sie sei keine Lehrerin, habe aber einen befreundeten Lehrer gefragt, und der habe ihr gesagt …, dann ärgert mich das. Jede Lehrerin, jeder Lehrer könnte hier sehr konkret und vor allem mit Fachkompetenz Auskunft geben.
Aktuell unterrichte ich ca. 50 15-Jährige in zwei Hauptschulklassen. Die Studie bewahrheitet sich jeden Tag in jedem Fach, nicht nur in Deutsch und Mathe. Wenn ich das Deutschbuch einsetze und in der 9. Klasse den Konjunktiv behandeln soll, dann verstehen mich schon die deutschsprachigen Schüler kaum. Was aber ist mit den ca 60 % Jugendlichen, die sich gerade mal so verständigen können? (Was ja eine Leistung ist angesichts der Tatsache, dass ihre Eltern oft gar kein Deutsch sprechen.) Was soll ich denen mit Konjunktiv oder direkter und indirekter Rede kommen?
Dank guter Beratung durch meine engagierte Kollegin Monia setze ich jetzt Lehrwerke für ‚Deutsch als Fremdsprache‘ in meinem ganz normalen Deutschunterricht ein. Das heißt, ich habe sie mir gekauft und verleihe sie. An den Schulen liegen derartige Unterrichtshilfen oft nicht vor. Meine Kids mit Migrationshintergrund – aus Syrien, aus der Ukraine, aus Georgien, aus Ghana … – können damit ihre Deutschkenntnisse aufbessern. Mit dem eigentlichen Unterrichtsstoff hat das aber nichts zu tun. Das ist mir klar. Wie ich dafür Noten gebe, liegt in meinem eigenen Ermessen.
Würde ich nicht auf die Weise binnendifferenziert arbeiten, wäre mein Unterrichtstempo dermaßen verlangsamt, dass es an Absurdität grenzte. Bleibt das Problem mit der Leistungsmessung, was jedoch angesichts der Gesamtproblematik eher sekundär ist.
Was das deutsche Schulsystem seit vielen Jahren den Jugendlichen antut, empfinde ich als verantwortungslos. Als massiv ungerecht. Irgendwann werden sie uns das mal sehr, sehr übel nehmen! Sie haben schlichtweg kein Recht auf Lernen. Denn sie lernen zu wenig. Sie lernen viel weniger, als sie von ihrem eigenen Potential her könnten. Stunde um Stunde werden sie ausgebremst statt intellektuell angeregt. Es geht zu langsam. Viel zu langsam. Es verbrennt sinnlose Lebenszeit, das ist das Schlimmste daran.
Ein Beispiel: Ein – deutschsprachiger – 15-Jähriger schreibt in einem Test über Textarten:
wo ein text die infomation rein sind (gemeint ist der Sachtext).
hat versen uns stoppen und zeilen. (gemeint ist das Gedicht)
saintsfixschen, fantesi (gemeint sind die Roman-Formate Science Fiction und Fantasy)
Eigentlich müsste ich mich nach dem Unterricht mit dem Jungen zusammensetzen und Wort für Wort sein kryptisches Geschreibsel durchgehen, Fehler erklären und alles neu schreiben lassen. So habe ich es an meinem vorherigen ‚Amt‘ manchmal gemacht, mit besten Lernerfolgen. Aktuell müsste ich das mit zwei Drittel aller SuS machen. Was leider nicht zu leisten ist. Und so bleibt es an den Jugendlichen hängen, die Untätigkeit der Bildungsminister*innen auszubaden.
Als Lehrerin bin ich frustriert und unzufrieden: Ich kann nicht machen, was gemacht werden müsste. Keine gute Erfahrung. Die Jugendlichen merken noch nicht, was ihnen da angetan bzw. verweigert wird. Noch freuen sie sich, dass es so gechillt zugeht, nur die Allerwenigsten kümmern sich eigenständig um Lösungen.
Gewisse Bildungswissenschaftler setzen seit ein paar Tagen dazu an, die Aussagekraft der PISA-Studie anzuzweifeln.
So kann man ein Problem auch zerfaseln …
Vorfreude
Mittwoch. 72 Päckchen sind gepackt und die drei Adventskalender auf den Weg gebracht, aber zum ersten Mal bin ich dabei, wenn PM sich morgens ans Auspacken macht. Das ist so warmumsHerz, wenn ein erwachsener Mann sich freut wie ein Schneekönig, und bei meinem lieben T. ist es genauso. Bei den Kölnern stelle ich es mir nur vor: ihre gute Laune beim Anblick der vielen kleinen Geschenke. Weihnachten sind wir, so zumindest die Planung, alle beisammen in Tübingen. Das ist das Glück, und die Vorfreude ist auch Glück.
PM hat für unseren Balkon einen Herrnhuter Stern zusammengebaut, das ist wie höhere Mathematik und der Stern wurde ja auch von einem Mathematiker ersonnen. Dauert ungefähr einen halben Tag, macht nicht unbedingt Spaß, aber wenn das Ding dann unter dem Schneedach hängt und in die schwarze Nacht leuchtet, sieht es einfach nur schön aus.
Heute war ich mit meiner Klasse Riesenrad fahren, danach durfte sich jeder noch was zu Essen aussuchen. Das Schicksal mancher Kinder geht mir sehr nahe. Haben schon ihre Schutzmechanismen wie Erwachsene und sind doch so offen und verletzlich wie Kinder eben. Warum bezahlen Sie uns das?, fragt einer, und ich erzähle ihnen von der Ahrflut und wie viele Menschen uns geholfen haben, auch Menschen aus Eisenach. Da nicken sie und verstehen.
Morgens um halb acht …
– was bringt der neue Tag?… Blick auf die Wartburg
Rüstungswahnsinn Kriegswahnsinn
Happy – Eisenach ist anders
Montag. Eisenach im Winter ist wie ein Spaziergang durch meinen alten Kinder-Adventskalender.
Ist das Leben hier sowieso schon irgendwie runtergefahrener, dann wird es unter der Puderzuckerdecke geradezu beschaulich. Alle reden vom Weihnachtsmarkt, ob man auch schon …, und hast du das gesehen …? Der Weihnachtsmarkt findet ganz traditionell auf dem Marktplatz statt. Schon in der Woche des Aufbaus weht eine Aufgeregtheit durchs Städtchen wie vor einem nationalen Großereignis. Und tatsächlich ist dieser Weihnachtsmarkt irgendwie anders. Seit Tagen macht das schneeweiße Riesenrad der Georgenkirche Konkurrenz. Heute geht es endlich los, mit seiner Lightshow leuchtet das Rad bunt und fröhlich über die Dächer hinweg, während dir unten der Duft nach allen Köstlichkeiten – nein, nicht der Welt, sondern Thüringens um die Nase weht: Bratwürste, Stollen, gebrannte Mandeln, Soljanka … und Lángos als ungarisch-exotisches Special. Es ist der am wenigsten kommerzielle Weihnachtsmarkt, den ich je erlebt habe. Kein Kitsch aus Fernost, keine gewaltigen Lichtinstallationen, keine Losbuden, kein Autoscooter. Sondern einladende Fressbuden, Schnitzereien aus dem Erzgebirge, Glaskunst aus der näheren Umgebung, ein Karussell und eben das Riesenrad. Auch kein Gewummer aus den Buden: Auf einem hohen Podest steht ein Chor und singt live. Während der Schnee rieselt und das Stimmengewirr zunimmt – alle sind gekommen, halten einen Schwatz, holen sich was zu essen und überlegen, ob es für eine zweite Fahrt noch reicht.
Ich laufe kreuz und quer durch die Buden hindurch und bin glücklich.
Bald ist Weihnachten … und ich bin in Eisenach.