Charming New York

Mittwoch. Nach dem Frühstück laufen wir zum Guggenheim, das mich gleich mal durch seine Lage mitten in einem Wohngebiet überrascht. Fensterlos, weiß und spiralförmig liegt es da wie eine an Land gespülte Riesenschnecke, nicht höher als die Mehrfamilienhäuser rechts und links.

Interessant, welche Künstler der Kupferbaron Solomon Guggenheim in ihrer Bedeutung so früh erkannt und gekauft hat, dass er sich jeweils kleine Sammlungen zulegen konnte: Kandinsky, Pollock sind prominent vertreten, auch Klee, Feininger, Légers, Picasso, Brancusi und Guggenheims Freundin Hilla Rebays.

Am Nachmittag machen wir eine geführte Tour im Tenement Museum über die Anfänge der deutschen jüdischen Auswandererfamilien, sind zunächst ein bisschen enttäuscht von dem, was man zu sehen bekommt, doch die Eindrücke wirken nach.

Vor der Schlange des Empire State Building kapitulieren wir und gehen statt dessen in Wolfgangs Steakhouse zum Essen, was sich als ein Erlebnis der ganz besonderen Art entpuppt. Die Kellner sehen einer wie der andere wie gut trainierte Ringer aus. Mit ihren breiten Schultern kommen sie kaum durch oder tun so als ob, weshalb sie sich mit der Eleganz kräftiger Menschen seitlich durch die Stuhlreihen schieben. Sie sind Fleischfresser, und alle, die sie bedienen, sind auch Fleischfresser. Sie sind Kellner, die Kellner spielen, und sie liefern eine gute Show. Sie tragen die weißen, langärmligen Businesshemden, die man hier bei sehr vielen Männern sieht. Etwas blusiger geschnitten als das normale Männerhemd, demonstrieren sie, dass bei ihren Trägern nicht nur Brain, sondern auch Muskelkraft im Spiel ist.

Es geht sehr laut und sehr lustig zu. Hier werden Geschäfte abgeschlossen. An vielen Tischen gibt es reine Männerrunden, die weißen Hemden leuchten, neue Getränke werden mit kreisendem Zeigefinger geordert, Gesten und Blickkontakt statt Worte, mann wirft sich weit in den Stühlen zurück: Der Tag ist gut gelaufen, nun tafelt für meine Freunde auf und lasst uns feiern!

PM schätzt, dass am Nachbartisch gute 2000 Dollar liegenbleiben. Ich halte das für schwer übertrieben, bis unsere eigene Rechnung kommt.

Die Steaks sind ausgezeichnet, mein Thunfisch auch.  Als ich dem Kellner einen Hugo zu beschreiben versuche, unterbricht er mich mit einer verstehenden Handbewegung, er habe da etwas ganz Feines: You‘ ll like it!, verspricht er. Und bringt: ein Glas Champagner mit Himbeersirup, das Glas à 25 Doller, was ich da aber noch nicht weiß und gleich ein zweites hinterher bestelle. Brötchen und Brot, stets als Vorspeise gereicht, sind für uns sortimentverwöhnte Brotliebhaber durchweg ungenießbar. Die Amerikaner können kein Brot. Alles Gebackene kommt aus der Folie, schmeckt nach nichts und hat die Konsistenz von alten Milchbrötchen. Bisher habe ich im ganzen Stadtbezirk noch keinen einzigen Bäcker und auch noch keine Fleischerei entdeckt. Fleisch oder Fisch gibt es im Restaurant grundsätzlich pur. Dazu kann man Salat bestellen, oder ein Gemüse. Eins! Entweder Champignons oder pürierten Spinat (der mit dem Blupp?) oder Brokkoli. Das kommt mir seltsam und seltsam einfallslos vor, denn wir sind eindeutig in einem gehobenen Etablissement. Der ausgezeichnete Grappa zeigt seine Wirkung, und nach der Zitronentarte schlecke ich mir alle zehn Finger. Auf dem Teller liegt noch ein großer Haufen „Schlag“, den ich lieber nicht anrühre. Wolfgang ist Deutscher, genauer: aus Bremen, wie wir erfahren, und eine ordentliche Portion Schlagsahne gehört zu jedem Dessert dazu.

Beim Anblick der Rechnung sehe ich PMs Gesicht sekundenkurz einfrieren. Was so untypisch für ihn ist, dass ich sofort weiß: Die Summe muss abenteuerlich sein. Ist sie, absurd und beinahe ärgerlich, aber du weißt mittlerweile, dass dir in NY das Geld nur so aus der Tasche fliegt.

Auf dem Platz vor dem Macy’s – durch das wir eine Runde gedreht und Fotos von der Rolltreppe aus Holz, der ältesten der Welt, gemacht haben – spielt eine Liveband. Die Leute tanzen Tango, viele sitzen einfach rum und gucken zu. Am Rand stehen Polizeiautos, und die neuen Betonpoller zum Aufhalten jederzeit aus dem Nichts anschießender terroristischer Angreifer in Kleinbussen fehlen auch nicht.

Die New Yorker sind das entspannteste Volk, das ich je erlebt habe. Sie arrangieren sich, 9/11 hat sie stark gemacht. Aber da ist noch etwas anderes. Trotz Menschenmassen, die sich Tag und Nacht durch die Straßen schieben, wird nie gedrängelt, und wenn dich versehentlich doch mal einer anrempelt, folgt auf dem Fuß ein „Sorry“. Empathie scheint hier in die Wiege gelegt zu sein. Davon könnten sich die Deutschen eine Scheibe abschneiden. In unseren Straßen, selbst in Tübingen, der Stadt der kurzen Wege, geht es gefühlt einzig und allein darum, der oder die Erste zu sein. Rempeln, Vordrängeln, gerade wie’s die Ellenbogen erlauben, sind an der Tagesordnung. Wie unsexy das ist, fällt mir erst im Vergleich zum relaxten NY auf. Und doch sind die Leute erfreut und aufgeschlossen, sobald sie mitkriegen, dass wir Deutsche sind. Amazing! Denn Amerikaner gelten bei uns zwar als freundlich, aber oberflächlich. Vielleicht ertragen wir einfach die Tatsache nicht, dass sie über eine Eigenschaft verfügen, die bei uns Deutschen eher Mangelware ist: Charme.