Das dicke Mädchen

Der Wald ist mir gar nicht geheuer. So dunkel, so schwarz und kein bisschen grün. Ist ja auch schon viel zu spät, um im Wald spazieren zu gehen. Ich gehe jetzt einfach nicht mehr weiter. Ich bleibe hier stehen. Hier an diesen dicken Baum gelehnt, an dem Harz herunterläuft und der so gut riecht. Sollen die mich mal schön suchen! Die suchen vielleicht schon. In der Tiefgarage. Auf der Straße. Hinter den Mülleimern. Dass ich so weit gelaufen bin, würden die gar nicht glauben. Nicht mal, wenn einer es ihnen sagen würde. Die wissen nichts. Die denken, ich bin zu faul zum Laufen. Zu dick. Immer zu dick. Ich hasse es, das Dicksein. Mama ist auch dick. Nicht so wie ich, aber auch ganz schön. Papa ist schlank. Er mag Mama trotzdem. Aber mich? Warum glaubt er, dass ich die Tabletten genommen habe? Als würde ich Omas Tabletten wegnehmen. Oma nimmt so viele Tabletten, die würde es nicht mal merken. Aber Mama hat es gemerkt. Wo sind die Glückspillen?, und mit dem Finger hat sie in den Fächern von Omas Tablettenbox rumgestochert, und dann hat sie so in meine Richtung gestarrt. Ich hab es genau gesehen. Mama denkt, ich könnte ja auch mal. Das Glück essen wollen. Meine Stimmung aufhellen wollen. Weil sie meistens nicht hell ist. Meistens bin ich mies drauf, wenn ich zu Hause bin. Da nervt mich alles. Echt alles. Und Papa hat es dann ausgesprochen: Das sind keine Bonbons, Mensch! Die kannst du doch nicht einfach auffressen! Papa fragt nicht mal nach, er fängt gleich an, mich zu beschuldigen. Klar, die Dicke braucht Stimmungsaufheller. Die Dicken und die Alten. Klar, dass die Probleme haben. Was wohl schlimmer ist, alt oder dick? Wenn ich tauschen könnte, nur mal so für zwei Stunden, ich wäre gerne alt – und ganz dünn. Ich wäre gerne so dünn wie Lucy. Lucy finden alle wunderschön. Ich auch. Ich finde Lucy auch total schön und vor allem total nett. Lucy hat mich schon mal in Schutz genommen, als Yannick mich getreten hat. Yannick tritt mich oft, ich glaube, er kann gar nicht an mir vorbeilaufen, ohne mich zu treten. Das ist so. Manche werden durch Dicke voll aggressiv. Einfach nur, weil sie so sind: dick. Ohne auch nur ein Wort mit ihnen zu reden. Ich kenn das. Ein Blick von oben nach unten und wieder rauf, und zack!, Urteil gefällt. Du kannst es sehen. Die halten dich für faul, für dumm, für traurig. Dabei bin ich traurig, weil ich dick bin. Nicht umgekehrt. Oder nicht? Sie sind rosa, aber jetzt auf meiner Handfläche sehen sie ganz grau aus. Jedenfalls bin ich jetzt hier. Bei dem dicken Baum. Hier suchen die nie.

 

(Schreibübung: Der körperliche Makel, 11.10.16)