Das Minimalismusprinzip (Letzter Bus nach Coffeeville)

Mike konnte selbst keine Gedichte verfassen, bewunderte jedoch alle, die es taten, und mochte irgendwann sogar die, die sich nicht reimten. Er übernahm gern die Aufgabe des Ansagers, der durch den Abend führte, und dank seiner Initiative wurde der Open-Mic-Abend für selbsternannte Dichter und Romanciers schnell zu einer belebten monatlichen Institution.

Das Thema des heutigen Abends war Poesie in unter fünfzig Wörtern. … Cheryl war gerade zweiundzwanzig geworden und engagierte sich in ihrer Freizeit begeistert in der kirchlichen Jugendgruppe. Ihr Gedicht hieß: Mit Coca-Cola geht’s einfach besser.

Christus niedergestreckt
von unserer Konsumfreude und
den Zugeständnissen an uns selbst,
sieh lächelnd an dir herunter,
auf die Wunden deines Fleisches
und überlege:
wäre alles nicht noch viel schlimmer
ohne Coca-Cola?

Das Publikum applaudierte. „Wow, ganz schön tiefsinnig, Cheryl!“, kommentierte Mike. „Da hast du uns allen einen echten Denkanstoß gegeben!“

Doc leerte sein Glas in einem Zug und winkte nach der Kellnerin, dass sie ein neues bringen sollte.

Mike kündigte unterdessen Kurt Wolfe an, einen Künstler, der vor kurzem aus Nepal zurückgekehrt war, wo er nach einem Nervenzusammenbruch ein Jahr verbracht hatte.

„Kurt wird uns zwei Gedichte vorlesen. Die sind beide sehr kurz. Deshalb lohnt es sich für mich nicht, mich zwischendurch hinzusetzen. Kurt hat mir erzählt, dass er in Nepal das Prinzip des Minimalismus erst so richtig zu schätzen gelernt hat, man darf also gespannt sein, was er uns heute Abend präsentiert.“

Kurt trat ans Mikrofon, schloss die Augen und stand eine Minute lang schweigend so da. Dann öffnete er die Augen und rief:

Kathmandu
Kathmanich

Das Publikum wartete darauf, dass er fortfuhr. Als klar wurde, dass das Gedicht zu Ende war, applaudierte man höflich, wenn auch etwas verwirrt.

„Danke, vielen Dank“, sagte Kurt. „Das bedeutet mir wirklich viel …“

(aus: J. Paul Henderson: Letzter Bus nach Coffeeville, Diogenes 2016, S. 371ff)