Das Museum der Unschuld

Wie schade. Der Roman Das Museum der Unschuld von Orhan Pamuk ist das erste und wahrscheinlich auch letzte Buch, das ich von dem Autor lese. Oder sind seine anderen alle besser, und es war einfach nur ein schlechter Einstieg? Die Handlung zieht sich, und es entwickelt sich – nichts! Der dumpfbackige, den Traditionen verhaftete, sich nach außen westlich gebende, im Herzen gnadenlose Macho und Frauenverächter Kemal, Protagonist dieses Endloswerkes, bleibt Dumpfbacke bis zur letzten Seite.

Mit jeder neuen Ungeheuerlichkeit wächst die Nervosität der Leserin ( hat das Buch auch Leser?). Zwei Fragen beschäftigen sie über die 570 Seiten: 1.) Wann kommt dieser Kemal endlich zur Besinnung? 2.) Dienen all die meeeegaaaa ausführlichen Beschreibungen seiner bizarren Handlungsweisen wenigstens der Entlarvung des traurigen Helden? Ist also der Roman ein Beispiel mehr für die Erzählhaltung des sogenannten Unwissenden Erzählers?

Diese Hoffnung zerschlägt sich irgendwann. Nichts davon trifft zu. Bis zur letzten Sekunde ist und bleibt unser Protagonist ein mit Blindheit geschlagener Nullchecker. Nicht aber in den Augen des Autors! Als Kemals Angebetete Füsün endlich tot ist, da sie sich in ihrer mehr als verständlichen, irren Wut nicht anders zu helfen weiß als den Chevrolet, in dem sie beide sitzen, in rasendem Tempo gegen eine Platane zu jagen, findet Kemal sich als Überlebender wieder, blickt aber immer noch nichts, außer, dass seine duselig-dämliche Glückserwartung nun so nicht mehr eintreten wird, und verbringt die folgenden Jahre – seinem Charakter gemäß absolut folgerichtig – damit, seiner schönen, sexy und nun leider toten Geliebten ein Museum zu errichten.

Ein Museum der Unschuld. Wer bitte schön ist hier eigentlich unschuldig? Der Kerl ist so schuldig, dass einem ganz übel wird. Eine traurige Liebesgeschichte, verheißt der Klappentext. Ja, weiß der Himmel, das ist traurig, und wie! Der einzige, dem man Unschuld bis zu einem gewissen Grad unterstellen darf, ist der Autor, denn irgendwie möchte er in seinem Helden einen starken, der romantischen Liebe hinbegebenden Typen erblicken.

Das Buch ist langweilig. Die neun (!) Jahre, die der Ich-Erzähler damit verbringt, in Cafés abzuhängen und Abend für Abend Füsüns Familie zu besuchen, um heimliche Blicke mit ihr auszutauschen (diese jedoch nicht zu verstehen) und fernzusehen, beschreibt er über rund 200 Seiten genauso eintönig, wie jene Abende gewesen sein mögen. Interessant daran ist allenfalls die Info, dass selbst bei den Kondolenzbesuchen für den inzwischen dahingerafften Vater der Geliebten genauso unermüdlich ferngesehen wird wie auch sonst an jedem Abend.

Das wird durchaus wohlwollend beschrieben, wie übrigens alles in diesem Buch. Die traditionelle türkische Gesellschaft mit ihrem intensiven und zeitraubenden und ineffektiven und manchmal auch zerstörerischen Familiengedöns bleibt auch vom klitzekleinsten Fünkchen Kritik verschont, genau wie der Protagonist selber. Nichts wird infrage gestellt. Im Gegenteil: Fast meint man den Autor lächeln zu sehen, wenn sein Held Kemal sich darüber auslässt, dass im Westen die Leute des Psychoanalytikers bedürfen, weil sie auf ihre Familienbande verzichten, und dass diese „Mode“ jetzt auch in Istanbul einreißt.

Das Museum der Unschuld ist das unpolitischste Buch, das ich je gelesen habe. An mehreren Stellen wird von Anschlägen „rechter und linker Extremisten“ berichtet. Der Ich-Erzähler steht neutral dazu. Was ihn daran lediglich zu stören scheint, ist die Störung seiner Ruhe. Der Held ist am Anfang dämlich und am Ende auch, und warum das so ist, darf die Leserin sich alleine beantworten. Die Heldin, Füsün, ist dabei auf der Strecke geblieben. Ihr Pech: Hat sie doch den neun Jahren seines stillen Werbens einfach nicht die gebührende Anerkennung geschenkt. Dass er in dieser Zeit mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – Geld und der Dynamik der Eifersucht – ihre berufliche Karriere zu verhindern gewusst hat, scheint für einen türkischen Mann seines Standes (Istanbuler Oberschicht) verzeihlich.

Die schmerzlichen Erfahrungen des Verlustes und der Schuld setzen in seinem Ich keinen Reifungsprozess in Gang. Es entsteht, um mit Freud zu sprechen, kein Schulddruck, und so fehlt ihm die Fähigkeit, kritisch weiterzudenken. Seine Energie verzettelt sich in der Abwehr seiner Schuld. Dadurch wirkt er so rückständig. Er hat keine Talent, sich unbehelligt der Vergangenheit zuzuwenden.

Als Leserin, die bis zum bitteren Ende durchgehalten und die ganze Zeit auf nichts anderes gewartet hat als auf den Moment, wo der berühmte Groschen endlich fällt und ordentlich scheppert in diesem verbohrten, eingeschränkten Hirn, kann ich nur sagen: Schade um die Zeit.

Den seinerzeit meist positiven Kritiken (bis auf die von Sigrid Löffler) glaube ich nicht. Pamuk schreibt zwar irgendwie ironisch, doch seine Ironie stellt nichts infrage. Das ist ja gerade das Schlimme.