Der Austauscher

Montag. Der Austauscher oder die Austauscherin* ist ein Mensch, der andere Menschen ausschließlich durch die Brille der Verwertbarkeit oder des Nutzens betrachtet.
Er findet es nützlich, sich mit anderen Menschen zu verbinden, weil er ohne diese nicht lebensfähig ist. Zu tiefen Gefühlen ist er nicht in der Lage, oder nur dann, wenn die tiefen Gefühle ihn selbst betreffen. So ist der Austauscher von seinem eigenen Tun gerührt, wenn er für einen anderen, sagen wir, Kaffee kocht oder ein Geschenk macht, weil er das für den höchsten Ausdruck von Liebe und Zuneigung hält. Doch tut er das Wenige, das er für andere tut, aus reinem Eigennutz: Täte er es nicht, wären sie vielleicht bald weg. Sie könnten nämlich irgendwann dahinter kommen, dass er keine Solidarität mit ihnen, mit niemandem, empfindet.
Der Austauscher ist nicht selbstlos, sondern ausschließlich auf sich selbst bezogen. Er verfügt aber über Verhaltensweisen, die über seine Haltung hinwegtäuschen. Oft ist er charmant und flirtig unterwegs, was ihn für seine weiblichen Opfer anziehend macht. Dass er es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, wäre eine schwere Untertreibung, vielmehr ist er ein ausgebuffter Wahrheitsjongleur. Darüber hinaus beherrscht er in nahezu perfekter Weise die für den anderen nicht zu durchschauende Technik der Anziehung und Abstoßung. So kann er in einem Atemzug eine Liebeserklärung mit einer ungeheuerlichen Kränkung verbinden.
Wenn die Gekränkte die Kränkung annimmt und Rückfragen stellt, ist der Austauscher empört oder belustigt, und er verweist darauf, dass er doch bloß einen Scherz gemacht habe. Der Austauscher flutscht weg, festnageln lassen sich nur die Dummen. Wer ihn kritisiert, wird auf Granit beißen. Der Austauscher verarscht die Welt, aber nur, weil die Welt sich von ihm verarschen lässt. Das gelingt ihm ziemlich oft, da der Austauscher nach außen hin weich, menschenfreundlich wirkt. Dass er im Kern hart ist, erfährt man erst, wenn man sich auf den Austauscher eingelassen hat. Und dann ist es oft schon zu spät.
An der Stelle kommt das Opfer des Austauschers ins Spiel. Woher nimmt der Austauscher die Freiwilligen, die sich so übel mitspielen lassen?
Aufgrund seiner Selbstüberzeugtheit wirkt der Austauscher souverän. Dass er sich diese Souveränität auf Kosten anderer erschwindelt, merkt ja erstmal niemand. Er lacht die Bedenken weg. Regeln gelten nur für die anderen. Er ist ein Grenzgänger. Er pfeift auf das Urteil der anderen. Er steckt sie alle in die Tasche, jedenfalls behauptet er das gerne.
Nun gut, das ist kein angenehmer Charakterzug, denkt sich das Opfer. Aber solange es nicht selber betroffen ist, schweigt es dazu. Das Opfer wacht erst auf, wenn die Reihe an ihm ist. Wenn es in hohem Bogen aus der Tasche des Austauschers fliegt.
Ohne jede Vorwarnung fliegt es ins Bodenlose.
Wenn es ganz unten aufschlägt und falls sein Rückgrat nicht gebrochen ist, fragt es sich, wie es überhaupt in die Tasche des Austauschers hineingeraten konnte. Und wieso es so wenig gemerkt hat.
Die schlimme Nachricht: Das Opfer hat sich den Austauscher selbst ausgesucht. Die gute Nachricht: Das Opfer kann dafür sorgen, nicht länger Opfer zu sein.
Zuerst zur schlechten Nachricht: Das Opfer ist wahrscheinlich eine Person, die schon einmal ausgetauscht worden ist. In aller Regel von seinen Eltern. Das geschieht leider sehr früh, und der Schaden sitzt deshalb sehr tief. Ein echtes Trauma, eine traumatische Erfahrung, die ein ganzes Leben prägt. Mütter und Väter können grandiose Austauscher*innen sein. Sie vergessen ihre Kinder, weil sie Besseres zu tun haben. Sie sind nicht erwachsen geworden und jagen verpassten Chancen hinterher. Sie sind zu schwach und spielen – je nachdem, wen sie gerade am meisten brauchen – ihre Kinder so lange und so gekonnt gegeneinander aus, bis jedes Gefühl von Solidarität zwischen ihnen abstirbt.
Keinem dieser Elternopfer ist jemals vergönnt, sich als die Nummer eins zu fühlen. Dieses Gefühl nehmen sie mit ins Leben. Es macht sie zu perfekten Opfern für weitere Austauscher. Voller Sehnsucht suchen sie nämlich nach dem EINEN, für den sie doch noch der Lebensmensch werden könnten. Leider stellen sie sich dabei denkbar ungeschickt an. Weil sie es nicht anders kennen, erwählen sie sich abgewandte, uninteressierte Austauschertypen und -typinnen. Um sie von sich zu überzeugen, und das kann im schlimmsten Fall ein Leben lang dauern! Damit betreten sie vertrautes Terrain. Das haben sie bei ihrer Mutter oder ihrem Vater ja auch schon versucht. Erfolglos zwar. Es kommt also auf einen neuen Versuch an. Sie tun alles für diesen einen Menschen, ohne zu realisieren, dass der Austauscher ihre Gefühle gar nicht erwidert. Dass sie lediglich nützlich für ihn sind. Oft aufgrund ihrer Lebensenergie, die der Austauscher ihnen aussaugt, wie Vampire sich vom Blut ihrer Opfer nähren.
Lebensenergie hat das Opfer zur Genüge. Weil es die traumatische Erfahrung, für die Mutter (oder den Vater) austauschbar zu sein, revidieren will. Koste es, was es wolle. Dafür muss es sich anstrengen. Wieder und wieder. Hierin liegt der Grund, warum das Opfer mit verblüffender Zielstrebigkeit Menschen anzieht, die seine alten Wunden aktivieren.
Der unbewusste Wunsch dahinter ist natürlich, die alte Wunde heilen zu lassen. Dass der Austauscher dafür der wirklich allerschlechteste Partner ist, merkt das Opfer oft zu spät.
Wenn es von dem vermeintlichen Partner ein zweites Mal ausgetauscht wird, sich die Katastrophe also wiederholt, ausgerechnet durch den Menschen, dem es seine ganze Liebe, seine ganze Energie und Kreativität geschenkt hat, kann das ziemlich lebensgefährlich sein.
Es gibt Opfer, die sich von dem erneuten Schlag nie mehr erholen. Weil Opfer dazu neigen, das Scheitern allein auf ihre Defizite zurückzuführen. Das Opfer hat permanent Schuldgefühle, deren sich der Austauscher in hervorragender Weise bedient. Das Opfer sieht nicht, dass es sich seinerseits einen Defizitären, eben einen Austauscher, einen nicht selten mit dem Krankheitsbild des Borderliners Behafteten ausgesucht hat, um sich zu heilen.
Erst, indem es die Zusammenhänge erkennt, kann das Opfer sich von seiner Opferolle distanzieren. Einen anderen Weg einschlagen. Das geht nicht alleine. Aber es geht. Es dauert, es ist ein Prozess. Ein Wachstumsprozess. Im Wachsen, soviel zur guten Nachricht, heilt nicht nur die alte Wunde, sondern das Opfer realisiert endlich, dass es darauf programmiert ist, auf die falschen Menschen zu setzen.
Das ist eine verdammt frustrierende Erkenntnis. Jahre, Jahrzehnte sind dabei draufgegangen. Die Erkenntnis ist teuer erkauft. Sie ist umso kostbarer. Sie ist die Rettung. Die einzig mögliche.
Nachtrag: Austauscher leiden nur kurz und nicht besonders heftig, etwa wie bei einer mittleren Grippeattacke, weiter nichts. Sie haben den Tausch von langer Hand geplant und fallen immer weich. Für Risiken sind sie zu unmutig und zu unlebendig, während das Opfer das Riskante liebt (manchmal zu sehr). Das Opfer verfügt, aufgrund seiner traumatischen Früherfahrung, über ein Potential an Mut und Ausdauer, ohne die es das Erlebte nicht überstanden hätte. Das Opfer leidet lange und schmerzvoll. Danach ist es eine Andere / ein Anderer.
Austauscher und Austauscherinnen tauschen nach unten, Spirale abwärts, sozusagen (am Ende steht die Mutter / die Krankenschwester / der Daddy / der Versorger). Mehr trauen sie sich nicht zu. Mehr halten sie nicht für nötig. Wachstum halten sie nicht für nötig, sie sind schon toll genug.
Das Opfer, das danach kein Opfer mehr ist, tauscht gar nicht. Es findet. Und das ist besser als alles davor.
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*kommt bei Männern und Frauen vor, ich beschränke mich im Folgenden auf die männliche Form