Er führt den jungen Arzt in die Unterwelt, wo Tausende von Lebenslichtern flackern, große, kleine und eben verlöschende. Sowie der Arzt erkennt, dass auch sein Licht am Verlöschen ist, fleht er seinen Paten, den Tod, an, einfach ein neues Licht auf das alte zu setzen. Dieser willigt zum Schein ein, stößt dabei jedoch das Licht wie aus Versehen um, und der Arzt sinkt zu Boden.
Was macht die Faszination des Märchens Der Gevatter Tod aus? Warum stellt sich mit dem letzten Satz so ein befriedigendes Alles-wird-gut-Gefühl ein?
Das Märchen geht gut aus! Der Arzt erhält seine gerechte Strafe. Hat der Tod etwa nicht versprochen, gerecht zu sein? Er steht zu seiner Zusage, und er hält sich an die Vereinbarungen – im Gegensatz zu dem Jüngling, der das nicht tut.
So gelingt es dem Märchen, den Tod als den Guten, den Freund, den Verlässlichen darzustellen, während der junge Arzt wie ein Filou, ein Karrierist, ein unzufriedener Nimmersatt erscheint.
Ist er denn nicht längst reich und berühmt genug? Warum will er durch die Heilung des Königs zu noch mehr Ruhm gelangen? Erst beim zweiten Versuch, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, sind seine Beweggründe wirklich plausibel: Er hat sich in die schöne, doch leider sterbenskranke Königstochter verliebt. Diesmal kann der Leser die schon einmal bewährte Trickserei nachvollziehen.
Aber es ist dieses eine Mal zu viel. Der Tod ist zornig, droht mit seiner knochigen Faust, und man ahnt schon, dass die Sache nicht gut ausgehen wird.
Warum eigentlich nicht? Ist dies nicht der älteste Menschheitstraum, den Tod zu besiegen? Nun wird mal so eine Siegergeschichte durchgespielt, und noch bevor ich damit zu Ende bin, scheint mich als Rezipientin eine Art vorauseilendes Unrechtsgefühl bei den Aktionen des Arztes zu beschleichen.
Es ist dasselbe Gefühl, das vergleichbare reale Geschichten in mir auslösen. Sehr genau kann ich mich noch an den Grusel erinnern, der mich erfasste, als ich zum ersten Mal von dem italienischen Arzt Dr. Sergio Canavero hörte. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, menschliche Köpfe von kranken auf gesunde Körper zu transplantieren. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich vielleicht einfach – noch – nicht ausreichend informiert war, um hinter solchen Eingriffen die Erfolgsgeschichte zu würdigen, anstatt sie sofort mit meinen Zweifeln zu belegen.
Im Kopf beziehungsweise im Gehirn ist nach unserer Vorstellung die Seele oder die Persönlichkeit des Menschen beheimatet. Die bloße Idee, diesen Körperteil abzutrennen und zu transplantieren, berührt meine Empfindung von Heiligkeit, von Unversehrtheit oder himmlischer Bestimmung der menschlichen Seele. Hier liegt ein Tabubruch vor, den auch die Öffentlichkeit nicht zu billigen scheint. So titulieren die Medien Canaveros Experimente mit „Frankenstein-OP“, „Himmelfahrtskommando“ oder „aberwitziger Plan“.
Auch der Arzt in dem Märchen bricht ein Tabu. Er ignoriert den Tod, anstatt dessen Regeln zu akzeptieren. Erst recht ist er nicht in der Lage, sich dessen Freundschaft zu versichern.
Eine gute Freundschaft gründet auf Akzeptanz und Sympathie für den Anderen. Das bedeutet, dass ich die wesentlichen Eigenschaften einer Freundin oder eines Freundes schätze oder vielleicht sogar bewundere und dass ihr oder ihm meine prinzipielle Solidarität gehört.
Die wesentliche Eigenschaft des Todes ist, dass er alle gleich macht – indem er alle eines Tages vernichtet. Dies zu akzeptieren, widerstrebt unserem Protagonisten jedoch so sehr, dass er, in seiner Rolle als Arzt, den Tod boykottiert. Er kann ihn nicht zum Freund gewinnen, weil er ihn seinerseits ausschalten oder vernichten möchte. Die Konsequenz ist, dass er jung sterben muss.
Das Kraut hat der Jüngling als Geschenk gerne angenommen, nicht aber gelernt, weise damit umzugehen. Klüger wäre es gewesen, den Tod nicht nur als Freund, sondern auch als Lehrmeister zu gewinnen.
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