Der Tod als Lehrmeister?

   Montag, B.N. Ein armer Vater von zwölf Kindern sucht für das dreizehnte einen Taufpaten. Den lieben Gott, den er auf der Landstraße trifft, will er dafür nicht, da dieser ungerecht seine Güter verteile. Auch den Teufel lehnt er ab, denn der verführe die Menschen nur zum Bösen. Als ihm schließlich der Tod begegnet, der von sich selbst behauptet, er mache alle gleich, schlägt der Mann ein. „Wer mich zum Freund hat, dem kann’s nicht fehlen“, fügt der Tod hinzu. Darauf bestellt der Mann ihn direkt zum nächsten Sonntag zur Taufe ein.
Das dreizehnte Kind wächst heran. Eines Tages hält der Tod den Zeitpunkt für gekommen, ihm sein Patengeschenk, ein Universalheilkraut, zu überreichen. Denn der junge Mann soll ein berühmter Arzt werden. Mit dem Kraut könne er jeden Patienten gesund machen, es sei denn, der Tod stehe zu Füßen des Kranken, dann sei kein Kraut mehr für ihn gewachsen! – so die eindeutige Anweisung.
Der Jüngling wird nicht nur berühmt, sondern auch reich. Und wie es kommen muss bei einem guten Märchen, wird er eines Tages herausgefordert: Der schwerkranke König lässt ihn zu sich rufen. Der Arzt erblickt den Tod zu Füßen des Kranken, doch nach kurzem Bedenken dreht er den prominenten Patienten einfach um, gibt ihm von seinem Kraut ein, der König erholt sich, und der Tod hat das Nachsehen.
Als der Arzt den Tod ein zweites Mal austrickst – es geht um die schöne Königstochter, die ihm bei erfolgreicher Heilung zur Frau versprochen wird – reagiert der Tod nicht mehr so nachsichtig wie beim ersten Mal.

Er führt den jungen Arzt in die Unterwelt, wo Tausende von Lebenslichtern flackern, große, kleine und eben verlöschende. Sowie der Arzt erkennt, dass auch sein Licht am Verlöschen ist, fleht er seinen Paten, den Tod, an, einfach ein neues Licht auf das alte zu setzen. Dieser willigt zum Schein ein, stößt dabei jedoch das Licht wie aus Versehen um, und der Arzt sinkt zu Boden.

Was macht die Faszination des Märchens Der Gevatter Tod aus? Warum stellt sich mit dem letzten Satz so ein befriedigendes Alles-wird-gut-Gefühl ein?
Das Märchen geht gut aus! Der Arzt erhält seine gerechte Strafe. Hat der Tod etwa nicht versprochen, gerecht zu sein? Er steht zu seiner Zusage, und er hält sich an die Vereinbarungen – im Gegensatz zu dem Jüngling, der das nicht tut.
So gelingt es dem Märchen, den Tod als den Guten, den Freund, den Verlässlichen darzustellen, während der junge Arzt wie ein Filou, ein Karrierist, ein unzufriedener Nimmersatt erscheint.
Ist er denn nicht längst reich und berühmt genug? Warum will er durch die Heilung des Königs zu noch mehr Ruhm gelangen? Erst beim zweiten Versuch, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, sind seine Beweggründe wirklich plausibel: Er hat sich in die schöne, doch leider sterbenskranke Königstochter verliebt. Diesmal kann der Leser die schon einmal bewährte Trickserei nachvollziehen.
Aber es ist dieses eine Mal zu viel. Der Tod ist zornig, droht mit seiner knochigen Faust, und man ahnt schon, dass die Sache nicht gut ausgehen wird.
Warum eigentlich nicht? Ist dies nicht der älteste Menschheitstraum, den Tod zu besiegen? Nun wird mal so eine Siegergeschichte durchgespielt, und noch bevor ich damit zu Ende bin, scheint mich als Rezipientin eine Art vorauseilendes Unrechtsgefühl bei den Aktionen des Arztes zu beschleichen.
Es ist dasselbe Gefühl, das vergleichbare reale Geschichten in mir auslösen. Sehr genau kann ich mich noch an den Grusel erinnern, der mich erfasste, als ich zum ersten Mal von dem italienischen Arzt Dr. Sergio Canavero hörte. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, menschliche Köpfe von kranken auf gesunde Körper zu transplantieren. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich vielleicht einfach – noch – nicht ausreichend informiert war, um hinter solchen Eingriffen die Erfolgsgeschichte zu würdigen, anstatt sie sofort mit meinen Zweifeln zu belegen.
Im Kopf beziehungsweise im Gehirn ist nach unserer Vorstellung die Seele oder die Persönlichkeit des Menschen beheimatet. Die bloße Idee, diesen Körperteil abzutrennen und zu transplantieren, berührt meine Empfindung von Heiligkeit, von Unversehrtheit oder himmlischer Bestimmung der menschlichen Seele. Hier liegt ein Tabubruch vor, den auch die Öffentlichkeit nicht zu billigen scheint. So titulieren die Medien Canaveros Experimente mit „Frankenstein-OP“, „Himmelfahrtskommando“ oder „aberwitziger Plan“.
Auch der Arzt in dem Märchen bricht ein Tabu. Er ignoriert den Tod, anstatt dessen Regeln zu akzeptieren. Erst recht ist er nicht in der Lage, sich dessen Freundschaft zu versichern.
Eine gute Freundschaft gründet auf Akzeptanz und Sympathie für den Anderen. Das bedeutet, dass ich die wesentlichen Eigenschaften einer Freundin oder eines Freundes schätze oder vielleicht sogar bewundere und dass ihr oder ihm meine prinzipielle Solidarität gehört.
Die wesentliche Eigenschaft des Todes ist, dass er alle gleich macht – indem er alle eines Tages vernichtet. Dies zu akzeptieren, widerstrebt unserem Protagonisten jedoch so sehr, dass er, in seiner Rolle als Arzt, den Tod boykottiert. Er kann ihn nicht zum Freund gewinnen, weil er ihn seinerseits ausschalten oder vernichten möchte. Die Konsequenz ist, dass er jung sterben muss.
Das Kraut hat der Jüngling als Geschenk gerne angenommen, nicht aber gelernt, weise damit umzugehen. Klüger wäre es gewesen, den Tod nicht nur als Freund, sondern auch als Lehrmeister zu gewinnen.

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Was drei kluge, wunderbare Interviewpartner*innen (eine international bekannte Fotografin, ein Paartherapeut/Buchautor und ein Musiker) zu dem Thema ‚Der Tod als Lehrmeister‘ zu sagen haben, kann man ab Februar 2019 dem 5. Kapitel des Buches  Komm, lass uns über den Tod reden (Arbeitstitel) im Ch. Links Verlag entnehmen …