Berlin ist ein Dorf

Donnerstag. Schon seltsam, wenn sich eine Begegnung genauso gestaltet, wie du sie dir vorgestellt / erhofft hast.

Meine Interviewpartnerin in Berlin holt mich liebenswürdigerweise von der S-Bahn ab. Sie hat mich eingeladen, bei ihr zu übernachten, was ich gerne annehme (die unkomplizierten Ossis …). Ich habe den Eindruck, in einem Dorf auszusteigen. Doch sind es angeblich nur zwanzig Minuten bis zum Alex, und wir sind definitiv noch in Berlin.

Wir erkennen uns sofort, hatten ja schon Schrift- und Bildkontakt.  Der Schnee rieselt und bedeckt Gärten und Hausdächer und die Straße, auf der wir uns mit dem Auto langsam fortbewegen. Dann ein großes Haus mitten auf einem noch wesentlich größeren Grundstück. Lichterketten verbinden die hohen Bäume. (Später erfahre ich, dass die Hausherrin sie selbst da oben angebracht hat!) Unscharf in der beginnenden Dämmerung: eine Steinbank, eine Schaukel, viel freie Fläche, Ordnung ohne einen Anflug von Pedanterie …

Eine Garage, einer von vielen Eingängen, viele Gänge und Treppen, ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum, viele, viele bunte Bilder, noch viel mehr Bücher ringsum an den Wänden, Schränke, Regale, Skulpturen, Kerzen – der überwältigte Wessi-Gast weiß nicht, wohin zuerst gucken. Hier ist nichts durchgestylt. Nicht um Farb- oder Hölzerharmonie geht es, sondern um gelebte, lebendige Erinnerung. Jeder Gegenstand hat seinen Sinn und scheint genau da richtig zu stehen. Ich kann mir ein Zimmer aussuchen, und da bin ich schon fast nicht mehr überrascht, für die Nacht auch ein eigenes Bad zu bekommen. Das ist so groß wie bei anderen – bei mir zum Beispiel – das Wohnzimmer, und bevor ich die Badewanne entdecke, fällt mein Blick auf ein komfortables Plüschsofa und einen goldenen Prunkspiegel darüber – das Bad einer Queen!

Überhaupt die Möbel! Hier ist alles alt. Manches museal wertvoll. Vor dem Wertvollsten lungert ein Plastik-Getränkekasten, oben drauf Zeitungen, noch mehr Bilder, Arbeitsutensilien. Die vor allem. In sämtlichen Ecken, auf – und mit Sicherheit auch in – sämtlichen Schränken liegen und stapeln sich Sachen, die auf den ersten Blick deutlich machen: Hier wird gelebt und gearbeitet ohne Unterscheidung.

Oben eine Oase der Ruhe. Lichtdurchfluteter Loft, der später, wie mir die Hausherrin erklärt, auf das Haus draufgebaut wurde. Das Haus ist so kreativ wie sie selbst, ein langsam gewachsenes Kunstwerk. Hier entstehen die Dinge, wegen der man sie kennt. Sie macht uns Kaffee, den Kuchen habe ich von meinem Lieblingskonditorei Fester aus Spandau mitgebracht, wo ich die Nacht davor bei H. und K. verbracht habe.

Ich stelle auf Aufnahme und höre eine Geschichte, die ich schon jetzt liebe …