Eine Meinung

Samstag. „Guck mal, da ist Andreas‘ Mama!“, ruft das Kind und presst die Nase ans Fenster.
Der Zug steht im Stuttgarter Bahnhof und warten auf die Abfahrt nach Tübingen.
„Wo isch dem Andreas sei‘ Mama?“ Die Mutter des Kindes beugt sich zum Fenster vor.
„Da, Andreas‘ Mama!“, wiederholt das Kind.
Die Mutter guckt intensiv: „Tatsächlich, dem Andreas sei‘ Mama“, sagt sie.
Als unter Schwaben lebende, sogenannte Norddeutsche bin ich ein wenig geschädigt, was mein Verhältnis zum Dialekt angeht. Manchmal gebe ich das auch zu. Auch, wenn ich mich auf die Weise nicht gerade beliebt mache.
Ich bin der Meinung, dass Eltern ihrem Kind die Grammatik nicht vorenthalten sollten. Wie die o.g. Mutter eines schwäbisch sprechenden Kindes, das ungewöhnlicherweise den Genitiv beherrscht. Vielleicht, weil es diesen Kasus in seinem schwäbischen Umfeld als frühkindliche Form des Protests für sich entdeckt hat?
Mich zur korrekten Grammatik zu bekennen, kostet mich keinen Mut. Niemand wird mich dafür verfolgen oder töten. Die demokratische Verfassung unseres Rechtsstaates schützt mich davor. Und wenn ich feststelle, dass meine Meinung falsch war, darf ich sie ungestraft wieder ändern, auch dann passiert mir nichts. Ich meine, es ist nicht GEFÄHRLICH, eine Meinung zu haben, selbst dann nicht, wenn es die falsche ist. Ich finde, es ist besser, eine falsche Meinung zu haben als gar keine.
Meine Vermutung: Mit steigender Relevanz der virtuellen Kommunikation werden die Leute zunehmend meinungslos. Zugeknöpft. Unauthentisch. Die eigene Meinung wird zur Privatsache erklärt. Und das Private ist schon lange nicht mehr politisch im Sinne von: die Allgemeinheit betreffend.
Die Angst vor Preisgabe des Privaten hat eine dramatische Wende im Umgang mit Öffentlichkeit ausgelöst. Mit Offenheit. Man ist nicht mehr offen. Jedes Partyfoto lässt sich von potentiellen Arbeitgebern auswerten, jede Info über Hobbies, Alter und Geschlecht kann unlautere Sexopas oder Werbe-Mails auf den Plan rufen. Unvorsichtigkeit im weltweiten Netz macht angreifbar. Jeder Nutzer ein geschlossenes System, aus dem allenfalls Belanglosigkeiten wie Katzen- und Fressfotos oder mal eine anonyme Bosheit ihren Weg nach draußen finden.
Die meisten Online-Botschaften werden zweckgebunden veröffentlicht und nicht, um eine persönliche Erfahrung oder Meinung zur Diskussion zu stellen und vielschichtige Antworten zu empfangen. Dem Adressaten oder Adressatenkreis soll ein Produkt angepriesen, ein Denkzettel verpasst, eine Meinung aufoktroyiert werden. Am besten via Sensationsnachrichten. Die Sensationslüsternheit einer am  schnellen Konsum orientierten Gesellschaft ist ein Fass ohne Boden.
Eine unangenehme Begleiterscheinung ist der Abnutzungseffekt. Sextapes von sog. Stars lösen kaum noch Reaktionen aus, weil man mit jeder Wiederholung mehr die Absicht hinter den Bildern so schrecklich deutlich erkennt. Die nackte Paris Hilton, die in dem Video ihres Ex-Lovers von eben diesem gevögelt wird, will ja eigentlich so niemand sehen, aber Scham und Erschrecken bleiben trotzdem aus. Man kennt das schon, ähnliche Bilder werden bald zum normalen Info-Set von Leuten mit Aufmerksamkeitsdefizit gehören. Das Private ist banal geworden.
Und wie lässt sich dann noch über Privates sprechen? Ich meine wirklich: Sprechen. Mit den Maßstäben der digitalen Kommunikation gehen die Maßstäbe der analogen Kommunikation Stück für Stück verloren. Per SMS die Beziehung aufkündigen ist leichter, als die unangenehme Sache von Angesicht zu Angesicht klären. Regt sich darüber noch irgendjemand auf? Ist das nicht inzwischen normal?
Nee, finde ich nicht. Ganz ehrlich. Das geht gar nicht. Das ist meine Meinung. Das ist nämlich feige. Genauso wie es nicht geht, intime Bilder als Werbematerial in eigener Sache oder als Verrätermaterial gegen andere zu missbrauchen – und so ganz nebenbei auch noch den Sex zu entwerten.
Na ja, und ich finde es eben auch falsch, seinem Kind keine Grammatik beizubringen. Den Genitiv zum Beispiel. Okay, ich bin jetzt ein wenig vom Thema abgedriftet. Es geht mir einfach darum, eine Meinung zu haben. Und die auch zu vertreten. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht sagen.