Eingerieben

Freitag. Hast du dich auch eingerieben?, fragt Beret.
Dauernd fragen sie mich, ob ich mich eingerieben habe. Dabei scheint die Sonne in Kiel nicht halb so stark wie in Tübingen, wo ich mich auch nie einreibe.
Wer sich nicht einreibt, kriegt Krebs. Das weiß doch jedes KIND! Oder hat sich das noch nicht bis zu dir rumgesprochen? Jerome und Beret sind mal wieder einer Meinung. Willst du Krebs kriegen? Doch wohl nicht, oder?
Wer von beiden war das jetzt? Egal. Krebs auch egal. Vielleicht sogar die Lösung? (Das denke ich zwar, meine es aber nicht so. Krankheit ist nie eine Option.) Ich halte das Gesicht in die Sonne, die im gleichen Augenblick hinter den Wolken verschwindet. Na klar!
Bodo, was ist eigentlich Bluetooth?
Bodo, der in echt Jonas heißt und Jeromes und Berets Sohn ist, flackt sich auf die Gartenbank: Bluetooth, äh, das ist die Weitergabe von Daten ohne Kabel. Quasi. Frag mich jetzt nicht, wie das funzt. Wenn ich dir mit bluetooth was verschicke, geht das nicht über Satellit, sondern sozusagen von Gerät zu Gerät.
Aaaah, ja, ich verstehe. Darf ich dir ein Stück von meiner Schokolade anbieten?
Jonas alias Bodo: Nö danke.
Ich geh schell mal in die Apotheke. Braucht jemand was? Beret steckt den Kopf durch die Terrassentür, guckt kurz in die Runde und verlässt mit einer Einkaufstasche das Haus.
Bodo, sagt Jerome. Denk daran, Eule wegen deinem kaputten Bein anzurufen.
Eule ist Max, Jeromes Arzt und ebenfalls ein Mitglied der Familie. Jerome hat Multiple Sklerose im fortgeschrittenen Stadium und telefoniert fast täglich mit seinem Privat-Doc.
Grete, wo hast du die Zeitung versteckt?
Ich zucke die Achseln.
Was liest du da fürn Scheiß?
Wortlos halte ich meine Lektüre hoch.
Grete!, schreit Jerome. Immer noch dieses Buch! Scheint ja außerordentlich spannend zu sein!
Grete, das bin ich. Geht auf Grete Schickedanz zurück. Als Jugendliche war ich berüchtigt für meinen schlechten Geschmack, und der Quelle-Versand galt bei uns als Synonym für schlechten Geschmack. Manchmal bin ich auch Frau Prof. Bur-Malottke oder Wirr-Malottke, je nach Anlass. In ausgewählten Momenten bin ich Dusselige Kuh. Beret auch. Wir sind beide Dusselige Kühe, das darf man nicht so eng sehen. Und woher das kommt, das weiß doch jedes KIND, das früher eine ziemlich abgefahrene, deutsche Fernsehserie geguckt hat.
Beret kommt zurück. Na, was macht Frau Piesch-Wasserstrahl?, fragt Jerome. Die Apothekerin hat einen komplizierten Doppelnamen mit i und a und in der Mitte Doppel-ss, der Jerome komplett überfordert.
Das Telefon klingelt. Niemand rührt sich. Als es endlich aufhört, sieht Beret auf dem Display nach.
Der Heilige Stuhl!, verkündet sie.
Hm, ich ruf heute Abend zurück. Jerome schielt schuldbewusst über den Deckel seines Laptops, vor dem er inzwischen sitzt.
Der Heilige Stuhl ist seine Schwiegermutter, die ihn, wie ihm gerade einfällt, um einen Rückruf gebeten hat. Sie ist eine große Erzählerin vor dem Herrn. Ihr Lieblingsthema ist ihr Verdauungssystem. Das kennt sie in- und auswendig, was kein Wunder ist, da sie seine verborgenen Regungen von morgens bis morgens analysiert. Ein Fulltimejob also, über den sie sich sehr offen und vorzugsweise mit ihrem Schwiegersohn austauscht.
Weißt du, was im Internet über Merkel rumgeht? Jerome liest eine verworrene Verschwörungstheorie über die Kanzlerin und die Stasi vor. Wir hören alle drei zu, weil nicht klar ist, wer mit du gemeint ist. Die Geschichte ist langweilig und auch nicht wirklich witzig. Keiner sagt was. Inzwischen lesen wir alle: Jerome studiert Online-Zeitungen, Sohn Jonas die Kieler Nachrichten, Beret die FAZ und ich meine Lektüre, mit der ich nicht fertig werde und von der ich nicht verrate, wie sie heißt, weil ich den Autor kenne.
Mausi, krieg ich mal ein Küsschen? Jerome und Beret spitzen ihre Lippen, es folgt ein schmatzendes Kussgeräusch.
Das Telefon klingelt wieder. Jerome auffordernd: Herrmann?
Stimmt, Jonas alias Bodo heißt manchmal auch Herrmann. Warum, entzieht sich meiner Kenntnis. Und der Vollständigkeit halber: Manchmal heißt er auch Pelz wie Faulpelz. Jonas/Bodo/Herrmann/Pelz nimmt ab und fängt an zu quasseln. Seine  Freundin, vermute ich, oder ein Kumpel.
Es ist aber Eule, der freundliche Privat-Doc. Er empfiehlt, wie Jonas/Bodo/Herrmann/Pelz kurz darauf berichtet, für sein verletztes Sportlerbein Ruhe und – Einreiben!
KLAR! Jerome nickt: Hätte ich selbst nicht besser sagen können. Er fixiert mich durch seine Goldrandbrille, und ich schnappe mir die Sonnencreme, damit endlich Ruhe im Karton ist. Ich bin froh, dass es ihn gibt. Ich bin froh, dass ich vorübergehend bei ihnen wohnen kann. Ich bin froh, dass diese durchgeknallte Familie meine Familie ist.