Montag, Tel Aviv. Die nächsten drei Tage verbringen wir in Tel Aviv und am Strand.
Hier wird ausschließlich Französisch gesprochen, was daran liegt, dass viele jüdische Familien aus Frankreich im August ihren Urlaub traditionell im Hotel Dan verbringen. Sie scheinen sich alle untereinander zu kennen und machen viel Krach. Sie überfluten Tel Aviv „wie eine Krankheit, die vorübergeht“, bringt es ein Taxifahrer auf den Nenner. Er führt es darauf zurück, dass aufgrund des zunehmenden Antisemitismus‘ französische Juden sich im eigenen Land nicht mehr sicher fühlen und sie wenigstens einen Monat im Jahr unbeschwert leben möchten. (Jedes Jahr übersiedeln 10.000 französische Juden nach Israel.)
Enjoy the day!,, wünschen dir das Hotelpersonal und die Kellner*innen in jeder Kneipe, wohin du auch kommst, oder einfach nur: Enjoy!
Feriengefühl stellt sich ein, eine allgemeine körperliche und geistige Entspannung, endlich. Im Hotel kann man in der Badewanne fernsehen – auch mal eine Erfahrung. Es wird früh dunkel, und wir haben inzwischen zwei Lieblingsrestaurants, wo der Fisch und die Salate besonders gut sind. In einem scheint sich der Chef für uns zu interessieren. Er schenkt uns einen Aperitif, später Desserts und dann einen lustigen, faltbaren Sektkübel aus Plastik, wie er sie in seinem Lokal verwendet. Er meint, wir hätten deutsche Gesichter. Aha. Das hören wir gerade hier nun eigentlich nicht so gerne.
PM stellt Berechnungen an, wie viele jüdische Mitbürger wir heute hätten, wenn Hitler & Co die 6 Mio. Juden vor siebzig Jahren nicht umgebracht hätten. 30, 40 Millionen? Wie sähe unsere Gesellschaft dann aus? Wie die Kunst, die Literatur, die Politik, die Wissenschaft? Und: den Staat Israel gäbe es in dieser Form, wie er sich präsentiert, auf jeden Fall nicht, diesen Gegenentwurf zum Dritten Reich mit seinem modernen, brodelnden, selbstbewussten Lebensgefühl. Und wenn es Israel nicht gäbe, dann sähe ja die ganze Welt anders aus, eine Vorstellung, bei der einem schwindelig werden kann…
Das koschere Frühstücksbüfett habe ich inzwischen so ziemlich durchgetestet. Du kannst den Schwerpunkt auf Salate und Gemüse, auf Fisch in vielen Variationen, auf Eierspeisen, auf Süßes, auf Früchte und Müsli oder einfach europäisch auf Brötchen mit Marmelade legen. Es gibt unendlich viele Sorten von Gebäck, Broten, Crèpes und Blätterteigstückchen mit allen möglichen Füllungen. Und dann Halva! In großen Brocken liegt es da, mit Pistatie, Nüssen oder pur, und lauert darauf, sich in Körperfett verwandelt auf deine Hüften zu legen (allein das Gefühl, wenn sich das Messer durch die weichkörnige Masse gräbt …)
Und die Datteln erst! Sie sind groß, weich und süß. Nie wieder werde ich eine Dattel vergammeln lassen oder wegschmeißen, seit ich im Negev auf den raren, kleinen Dattelplantagen – Landwirtschaft in der Wüste! – die Dattelpalmen wachsen und die in Netze eingewickelten Dattelrispen hoch oben in den Palmenkronen hängen gesehen habe.
Am Freitag Abend beginnt der Sabbat. Der Strand leert sich schon am Nachmittag, überall die Schabbat-Schalom-Rufe. In der Hotellobby warten in elegantes Weiß gekleidete Frauen, schwarz gekleidete Männer mit Kippa und viele aufgeputzte Kinder auf den Rest ihrer Familien, um im Speisesaal das gemeinsame Sabbat-Dinner einzunehmen.
Wir gehen ein bisschen spazieren und später am Strand essen. Es ist ein komisches Gefühl von Nichtdazugehören, aber vielleicht empfinde nur ich das so. Gegen 22 Uhr füllen sich die Straßen wieder, die Jungen drängt es nach draußen, und Familien mit Kinderwagen schlendern in ihren schönen Kleidern im Licht der Straßenlaternen über die Promenade.
Israel ist ein extrem junge Gesellschaft. Da müssten doch ganz neue Ideen des Zusammenlebens aufkommen, ganz neue Denkmuster, diese Vorstellung verbinde ich jedenfalls mit so vielen Jungs und Mädels, die hier das Straßenbild dominieren. Die Menschen sind auffällig schön. Man kann sie sich gut als Protagonisten des Salomo’schen Hohenliedes vorstellen: Die Frau, die ihren Liebsten sucht und die Freundinnen um Beistand anfleht, der Mann, der heimlich in das Schlafzimmer der Geliebten eindringt, und beide besingen einander um ihrer Schönheit Willen …
Das Tel Aviv Museum of Art, das donnerstags bis 21 Uhr geöffnet hat, ist eine supergelungene Gesamtkomposition von Architektur und Kunst. Es besteht im Grunde genommen aus Stiftungen, sowohl was den Bau als auch die Sammlungen betrifft. Alle namhaften Künstler des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts sind hier vertreten, wenn die Bilder selbst auch oft nicht so bekannt sind. Ein sehr farbenstarker Jawlensky gefällt uns beiden besonders gut. PM liebt Chagall, ich bin nach wie vor Cézanne-Fan.
Zuvor haben wir uns das Bauhausviertel angesehen. Die Häuser sind zum Teil schlimm heruntergekommen und werden erst seit den letzten Jahren wieder neu entdeckt und renoviert. Es gab eine Zeit, da wollte man sie abreißen, weil sie das Werk deutscher Architekten sind. Das finde ich ziemlich daneben, schließlich haben jüdische deutsche Architekten sie gebaut, die nicht zufällig aus Deutschland abgehauen sind.
Am Abend, wir sind wieder in der Masada-Bar gelandet, dreht auf einmal von irgendwoher voll die Partymucke auf. Die Leute laufen zusammen, wir hinterher. Am Straßenrand stoppt ein Bus, ein paar orthodox gekleidete Männer springen unter dem Gewummer der elektronischen Bässe heraus und fangen an zu tanzen. Einer klettert aufs Autodach und vollführt da oben ein paar wilde Moves. Ich muss an die Jesusfreaks der Siebziger denken. Nur waren deren Busse zum Wohnen gedacht, und die Leute sahen sehr viel fertiger aus als diese Typen hier. Sie nennen sich selber die Happy Jews of Tel Aviv (wir googeln sie später), und sie scheinen gut anzukommen. Nach einer Weile steigen sie so unvermittelt wieder ein, wie sie gekommen sind, und fahren weiter.
Es ist schon spät, das Meer rauscht und die Stadt vibriert vor Leben.