Montag, B.N. Ein Abend mit Hagen Rether in der ausverkauften Bonner Oper.
Politisches Kabarett? Gelacht wird, aber noch eher gedacht. Da redet einer dreieinhalb Stunden – okay, abzüglich der halben Stunde Pause – auf höchstem Niveau, um im Schnelldurchgang sein Weltbild zu präsentieren. Und das umfasst fast alle Bereiche: Flüchtlinge, die er lieber Heimatvertriebene nennt, ungesühnte sexuelle Missbräuche in der katholischen Kirche, Waffenexporte nach Saudi Arabien, Gewalt gegen Frauen, worüber sich kein einziges Politmagazin, keine Talkshow echauffiert, TTIP, wobei der eigentliche Skandal nicht das Chlorhühnchen ist, sondern dass wir überhaupt noch Hühnchen essen – Rether ist Veganer – und dass im Zuge von TTIP immer noch mehr Wachstum in Aussicht gestellt wird bis wir alle schier kotzen, Bildungspolitik und zu frühe Einschulung, der zu frühe Schulanfang am Morgen sozusagen mitten in der REM-Phase, um dem preußischen Arbeitsethos nachzueifern („Leute, die Preußen gibt es nicht mehr, die sind tot!“), Zwangsberentung von rüstigen Facharbeitern, die dann in der Zeitung lesen müssen, dass Facharbeiter gesucht werden, sie jedoch ihr restliches Leben nur noch Reha-mäßig an Stöcken durch den Wald laufen dürfen, Fahrradfreaks in engen Hightechhosen und mit rasierten Beinen wegen der Beschleunigung und noch higherer Technik am Lenker – eben unsere ganze bekloppte Marionettengesellschaft, die nur noch auf Optimierung, auf das Schnellerweiterhöher in jeder, aber wirklich jeder Hinsicht programmiert ist.
Und daran krank wird. Der Turbokapitalismus, dem Ende entgegen rasend, hinterlässt eine komplette Bevölkerung in der Sinnkrise: Depressive 15-Jährige unter Dauerdruck, 17 jährige Studenten, die noch nicht mal ihren WG-Vertrag selber unterschreiben dürfen, Arbeitnehmer im besten Alter mit Burnoutsyndrom, hochqualifizierte, aber unbeschäftigte Rentner und Pensionäre, denen, siehe oben, nichts bleibt als an Stöcken durch den Wald zu rennen.
„Gehen Sie wählen?“, fragt einer aus dem Publikum. „Klar“, erwidert Rether, und man sieht es in seinem Großhirn rattern, und dann switcht er mal eben um und redet eine halbe Stunde übers Wählen und über die Parteien, die uns so zur Auswahl stehen. Viele sind es ja nicht, die ernsthaft infrage kommen. Aber was mich und PM (der mir die Tickets zum Geburtstag geschenkt hat) und sicher noch viele andere viel mehr beschäftigt: Improvisiert der das jetzt gerade?
Offensichtlich hat Rether für den Modus im Freiflug genug auf Halde liegen, was übrigens auch für Klavierspiel und Gesang gilt, das hat er früher mal an der Folkwangschule studiert. Am Ende gibt es vom Publikum Standing Ovations, weil alle hin und weg und wie verzaubert sind. Ein toller Abend, und wir haben noch lange was zum Quatschen draußen auf der Terrasse unterm Sternenhimmel …
… bevor wir das mit dem Wasserrohrbruch in PMs Keller feststellen, aber das ist dann schon wieder eine andere Story.