Im Nebel

Mittwoch. Ich lese ihnen Im Nebel von Hermann Hesse vor. Es ist ganz leise in meiner 9. Hauptschulklasse. Niemand brüllt dazwischen, niemand lässt sich vom Stuhl fallen, niemand rennt türknallend raus, schießt Stiftepfeile auf seinen Gegner / seine Gegnerin oder Papierbomben ins Waschbecken (weil sie den Papierkorb nie treffen). Gerade habe ich die letzte Zeile gelesen: Jeder ist allein, da sagt mein Problemschüler S. in die Stille: Das kenne ich.
Huch!, es wird noch stiller, da hat sich jetzt aber einer geoutet. Ich sage: Das kennen wir wahrscheinlich alle, dass man sich allein fühlt, manchmal sogar wenn man mit der Familie am Tisch sitzt oder in einem vollen Klassenzimmer.
Ich erzähle von Hesses Alleingang in Sachen Pazifismus, wie er aufgrund seiner Antikriegs-Haltung immer mehr isoliert worden ist, was sich auch in diesem Gedicht niederschlägt. (Ob sie wohl die Parallele zum Ukrainekrieg ziehen?)
Wir sind alle isoliert, sagt I., der in zwei Monaten vielleicht seinen Abschluss nicht schaffen wird: Für mich gab es gar keinen Unterschied zwischen Lockdown und Normal, ich bin sowieso immer für mich, und alle anderen, die ich kenne, auch.
Social Media, Einsamkeit – I. macht mit seinen persönlichen Erfahrungen die Tür weit auf,  jetzt können die anderen mitreden. V. erzählt, dass er seit zwei Monaten nicht mehr kifft. Seine Gruppe habe das nach harten Kämpfen akzeptiert, anfangs hätten sie ihn für einen Lauch gehalten und ihn immer wieder zum Mitkiffen animiert.
Was für eine Stunde! Was für ein Potenzial da unter der dicken, meist undurchdringlichen Decke des Schweigens, des Frusts, der Verunsicherung schlummert. Es sind genau die, die sich schon aufgegeben haben oder von den Erwachsenen ihres Umfeldes aufgegeben worden sind, die plötzlich zur Höchstform auflaufen – wenn sie ein Gedicht von Hesse hören.
Ick danke und ick küsse dir, Old Hermann, für diesen Wurf, für diesen zeitlosen Volltreffer.