Mittwoch, Tübingen. Der Chef vom Restaurant Roma, wo wir in diesem Urlaub jeden Abend gegessen haben – mit einer Ausnahme, die von der Bedienung auch gleich tadelnd registriert wird – , hat einen göttlichen Limoncello. Den schenkt er Special Guests zum Abschluss ein, keineswegs immer umsonst. Es stellt sich heraus, dass er ihn selbst ansetzt. Am vorletzten Tag fragen wir ihn nach einer Flasche davon. Er zögert, sagt, da müsse er erstmal nachdenken, eigentlich verkaufe er nicht flaschenweise.
Unmissverständlich spiegelt sein Gesichtsausdruck einen inneren Kampf wider. Der Künstler, der sich nur ungern von seinen Meisterwerken trennt.
Am nächsten Abend kommt er hinterm Tresen hervor, mit einer schmalen Flasche in der Hand und einem breiten Grinsen. Tatsächlich habe er doch noch eine gefunden. Er baut die Flasche auf dem Schanktisch auf, und wir betrachten sie mit Ehrfurcht. So, wie er sie zelebriert, handelt es sich hier um einen bedeutenden Moment, von dem uns keine Sekunde entgehen sollte.
Die Flasche ist am Korken laienhaft versiegelt. Über sie hinweg nickt der Chef uns zu, wir nicken dem Chef zu. Wenn ich ihn richtig verstehe, erzählt er von Zitronen, die er aus einem ganz bestimmten Garten in einem ganz bestimmten Dorf hole, dabei zeigt er mit dem Finger irgendwie nach links. Nur mit diesen Zitronen würde die Sache was werden! Er kramt einen Zettel aus der Hosentasche und legt ihn neben die Flasche. Ich staune nicht schlecht, als ich sehe, dass er das Rezept für uns aufgeschrieben hat. Das gebe er nicht jedem!, sagt er mit Nachdruck, sodass die Bedeutung des Augenblicks, so kurz er auch ist, noch einmal im Raum steht wie ein Ausrufezeichen. Dann legt er seine Visitenkarte mit E-Mail-Adresse dazu: Ich solle ihm schreiben, wie der Limoncello geworden sei, das interessiere ihn und er werde auf jeden Fall auch antworten.
Hatte ich was von Selbermachen gesagt? Als lese er meine Zweifel, angelt er einen großen Topf vom Regal, zieht die Folie ab, instinktiv beuge ich mich darüber und kippe fast hintenüber, so besoffen werde ich vom bloßen Einatmen des Aromas. Pure Zitrone in purem Alkohol. Das gefällt ihm. Der Unterschied zu Massenware sei eklatant. Das weiß der Roma-Chef. Er hält noch einen engagierten Vortrag über das Abraspeln der Schale dieser raren Zitrone mittels eines ganz gewöhnlichen Kartoffelschälmessers, über die richtige Zuckermenge und die Ansetzzeit.
Jetzt, wo der Urlaub vorbei ist und der Alltag wieder omnipräsent, habe ich Angst, Zettel und Visitenkarte zu verlieren. Schon zweimal habe ich sie an einen sicheren Ort gelegt, von dem ich jedesmal befürchte, dass er mir entfallen könnte. Zuerst lagen sie zusammengefaltet im Sonnenbrillenetui. Aktuell hängen sie an der Korkwand. Besonders der Zettel mit dem Rezept scheint mir wie eine Art Verpflichtung. Wenn ich daran denke, denke ich an Berge von geraspelter Zitronenschale, und mir wird ganz flau. Ich stelle mir vor, wie ich irgendwann in die Limoncello-Produktion einsteige. Die Flasche hat übrigens 20 Euro gekostet, das scheint mir jetzt ziemlich wenig.