Intensive Zeiten

Sonntag. Sie kommen fast gleichzeitig, I. und G . und Dorle mit ihrer Schwester.

Die Gemüseantipasti sind durchgezogen und angerichtet, die Schollenfilets schmoren noch im Ofen. PM hat vorher im Kaufland eingekauft, maximal schwieriger Supermarkt, den ich immer noch am liebsten meide.

G. ist von der Chemo gezeichnet, ist aber guter Dinge und bei Kräften, wie man so sagt. Er und I. sind mit den Fahrrädern gekommen. Sie haben ein Buch mit grün-goldenem Einband – Die Krähe von Kader Abdolah -, zwei Flaschen Pinot Grigio und Herbstblumen aus dem Garten mitgebracht; und Hunger.

Dorles Schwester lebt in Kanada, natürlich ist CETA ein Thema. Ich bekomme regelmäßig die Updates zur Petition Bürgerklage gegen CETA, die von Marianne Grimmenstein initiiert ist und die ich mit unterschrieben habe.

Dorles Schwester ist Medizinarchäologin und interessiert sich weniger für CETA. Sie erzählt von den Häusern in Kanada. Offenbar bauen sie dort ganz anders als bei uns. Die Häuser sind komplett aus Holz, auch die, die keine Blockhütten sind. Das wissen wir nun auch.

PM wird wieder mal befragt, wieso er Nicht-Arbeiter-Kind in der DDR Medizin studieren konnte. Er regt sich darüber nicht mehr auf. Und schließlich haben sie in der DDR genauso einen Bullshit über Westdeutschland kolportiert wie bei uns über die DDR.

G. freut sich an dem Gequatsche und am Weißwein und am abschließenden Limoncello aus Menton. Von der Terrasse sehen wir hinunter in den Hof, in die hell erleuchteten, gardinenlosen Fenster ringsum, rechts das von Wolfgang, und auf die sanft bestrahlte Stiftskirche weiter hinten. Das Schloss liegt im Dunkel der Stadt, es wird nachts nie angestrahlt, es ist ja auch ziemlich hässlich.

Wir reden über Tagebücher und Fotoalben, beides Dokumentationsformate, die entweder von nachlassender Motivation oder vom Vollständigkeitswahn bedroht sind, je nach Akteur. Für Letzteres stehen die mega aufwändigen Alben meines Vaters, 58 an der Zahl und jede Seite eine erstaunliche Collage aus Fotos, abgelösten Weinetiketten, Billets, Rechnungen u.v.a., um sämtliche Unternehmungen seiner 88 Lebensjahre – bis auf die Kriegsjahre – minutiös zu dokumentieren und zu illustrieren. Ich erzähle, dass wir nicht wissen, wohin damit. G. lächelt I. an und sagt: „Also, meine müsst ihr mal nicht aufheben!“, und das ist das einzige Mal an dem Abend, dass seine Krankheit in den Fokus rückt und dass wir alle traurig werden.

Solche Abende sind das, was in Erinnerung bleibt. PM behauptet, seine intensivste Zeit sei die Erfurter Zeit gewesen. Das irritiert mich. Nicht nur, weil ich nicht dabei war. Ich kann nicht sagen, wann meine intensivste Zeit war. Immerzu gibt es doch intensive Augenblicke, Tage, Wochen. Jetzt in diesem Augenblick, zum Beispiel, habe ich das deutliche Gefühl, das Leben pocht in meinen Adern. Es ist ganz still in der Wohnung, nur Steves Gähnen hinter seiner Tür. Das Laub leuchtet in allen Grünschattierungen vor dem Küchenfenster, wir hatten gestern einen schönen Abend und da ist schon eine Verabredung für den nächsten schönen Abend, PM ist abgefahren und ich vermisse ihn, aber in einer Woche fahre ich nach B.N., und von da gehts weiter nach Berlin. Ich habe etwas vor, worauf ich mich freue.
Ich glaube, wenn ich nichts mehr vorhabe, ist mein Leben vorbei.