Intertextualität

Sonntag, B.N. Intertextualität – was für ein hässliches Wort für einen so schönen Vorgang.

Texte befruchten sich gegenseitig. Oder: Texte stehen immer in Beziehung zueinander. Ein ‚reiner‘ Text, ohne jedes kulturelle Bezogensein, ist schlichtweg nicht vorstellbar.

Den Begriff Intertextualität prägte in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts die bulgarische Kulturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva, die 1965 nach Paris emigrierte. Ein Text sei ein „Mosaik von Zitaten“ und kein Text ohne Bezug zur Gesamtheit anderer Texte und anderer kulturgeschichtlicher Niederschläge denkbar.

Denn Texte werden ja nicht nur von Texten inspiriert. Die Kultur mit ihren verschiedenartigen Äußerungsformen wie Kunst, Architektur, Musik, Wissenschaft ist als ein Gesamt-Netzwerk zu verstehen, das sich in ununterbrochenem Dialog mit- und untereinander befindet.

Jeder Text trägt also Spuren vorheriger Texte oder Begriffe oder Ideen in sich. Jeder Text, und sei er noch so unsinnig, ist somit ein Konglomerat von jüngeren und alten bis uralten Traditionen. Wessen Stimmen alles aus welcher Zeit und von welchem Ort in einem Text zu Wort kommen, lässt sich nicht mehr ausmachen, ist unter nicht-wissenschaftlichem Aspekt meistens auch egal. Picasso sagte einmal sinngemäß, dass die Idee zu einem innovativen Gemälde immer schon irgendwie in der Luft liegt. Selbst wenn es im geheimsten aller geheimen Verstecke gemalt wird – plötzlich machen andere Künstler an anderen Orten der Welt etwas ganz Ähnliches.

Roland Barthes (Kritik und Wahrheit, 1967): „Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen.“

Zur Veranschaulichung wird in der Literaturwissenschaft auch das Bild des Palimpsest herangezogen. Unter dem einen, zu untersuchenden Text scheinen wie bei einem mehrfach überpinselten Gemälde gleichsam andere, frühere Texte hervor.

Als schreibendes oder sprechendes Subjekt merken wir davon selbstverständlich meistens nichts mehr. Es wäre auch schrecklich, sich dessen dauernd bewusst zu sein.

Wenn wir es aber merken, d.h. eine Textreferenz bewusst herstellen, dann kommt es zu Zitaten, Parodien oder Plagiaten. Doch auch hierbei sind wir nicht immer im vollen Bewusstseinsmodus, da kein Autor der Welt den Fundus sämtlicher kultureller Zusammenhänge präsent hat. Wir können sozusagen aus Versehen zitieren, parodieren oder plagiieren.

Ohne es zu merken, haben wir eine uralte oder eine brandneue Idee aus der Luft eingefangen.

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s. dazu auch den Artikel „Interkulturelle Symbiose – Entdecken was uns verbindet“: http://de.qantara.de/inhalt/islamforschung-interkulturelle-symbiose-entdecken-was-verbindet