Jedem Ende wohnt …

Triora / Ligurien ist eine halbe Geisterstadt. Aber zuerst musst du mal überhaupt dahin kommen. 35 von den 65 Kilometern führen durch enge Bergstraßen und Haarnadelkurven, das zieht sich scheinbar endlos hin. Zum Glück versteckt sich die Sonne hinter Wolken und es sieht nach Regen aus, doch auch der Regen bleibt in der Wolkendecke hängen.

Auf der Strecke fährst du dauernd an diesen “pittoresken”, an den Berggipfeln klebenden Dörfern mit hohem Kirchturm als Zentrum vorbei, und dauernd denkst du, das muss es jetzt sein, schöner kann es nicht werden. Doch nur Triora hat vom DUMONT das rote Ausrufezeichen bekommen, und so lassen wir die anderen Dörfer links und rechts liegen und kriechen mit 10, 20, 30 km/h weiter, immer weiter hoch. Auf der Beifahrerseite fällt die Schlucht bis runter zum Argentina-Fluss, der so gut wie kein Wasser führt. PM’s Laune fällt mit jedem gestiegenen Meter, und ich hoffe die ganze Zeit, dass es nun nicht mehr lange geht, denn ich war diejenige, die unbedingt hinter den Grund des roten Ausrufezeichens kommen wollte.

Und dann liegen die Umrisse vor dir, von Nebeln umwabert und wahrlich geisterhaft, und es gibt keinen Zweifel, dass das Triora ist. Das Auto wird abgestellt, und du willst nur noch rauf, immer weiter rauf, wo das Dorf bloß noch aus Ruinen besteht. Doch zwischen all den zugenagelten oder eingeschlagenen Fenstern gibt es immer wieder auch eins mit ausgeblichenen Vorhängen, mit einem Geranien- oder Kakteentopf oder einem weißhaarigen Kopf auf gebückten Schultern, der sich gelassen, sobald deine Sohlen auf dem mittelalterlichen Holperpflaster aufschlagen, zu den deutschen Touristen umdreht und dann wieder im Inneren der Mauern verschwindet.

Die meisten Türen sind verschlossen, mit Balken und Nägeln verbarrikadiert, wie es aussieht, schon seit vielen Jahren, sodass sie nicht einmal mehr neugierig machen. Manche Häuser hat sich die Natur komplett erobert, aus Fenster- und Türöffnungen quellen Grasbüschel, Lavendel und meterhohes Gestrüpp, und manche haben auch kein Dach mehr. Statt dessen wächst ein Olivenbaum aus dem Mauerwerk, wo früher mal der Esstisch oder das Ehebett standen. Das Eisentor zum Friedhof aber, ganz oben auf dem Bergkamm, lässt sich öffnen.

Das jüngste Grab ist von 2009, was wohl damit zusammenhängt, dass die Bevölkerung dermaßen reduziert ist, dass nur noch selten einer stirbt. Angeblich wohnen gerade mal dreihundert Leute hier oben, und du fragst dich, wie das überhaupt geht. Die Wolken wehen wie abgerissene Wattefetzen um die Grabsteine und um deinen Kopf. Die nahen Berge sind mittlerweile im Nebel verschwunden. Du bist mit den Grabsteinen allein auf der Welt.

Wieder unten, verspürst du plötzlich unerklärlichen Hunger und bestellst dir eine Platte mit köstlichem italienischen Schinken und Salami. Du hast gefühlt hundert Fotos gemacht, die alle von Verfall, von Verlassenheit, vom Weggehen, vom Ende zeugen. Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei, und wohl deshalb schmeckt diese Wurst hier auf dieser Piazza von Triora auch doppelt gut.