Keine Angst

Sonntag, B.N. Heute lief ein junges Mädchen in Netzstrümpfen, Jeansshorts („Hot Pants“), hohen Stiefeln und Tanktop vor mir her, beinahe eins zu eins der gleiche Look, den ich als Fünfzehnjährige getragen habe (im Schulklo Klamottenwechsel und mittags wieder Zurückwechsel). Klar, dass so ein Styling provoziert. Es macht aber auch, dass du dich und deine Grenzen ausprobierst, dass du dich superstark fühlst, dass du denen, die sich provozieren lassen, den mentalen Stinkefinger zeigst. Ich bedaure alle Frauen, die sich in älteren Jahren eingestehen müssen, sich niemals auf diese Art ausgetestet zu haben und meistens auch auf keine andere.

Provozierende Looks sieht man zunehmend seltener auf der Straße als noch in den späten  Neunzigern und Anfang der 2000er Jahre. Von jungen Mädchen höre ich oft: „Wie sollen denn die arabischen Männer damit klar kommen?“ Den ideologischen Wandel führe ich unter anderem auch auf diese Form der Rücksichtnahme zurück. Ich finde das bedauerlich. Ich finde Rücksichtnahme auf Andere mit deutlicher Selbsteinschränkung immer bedauerlich, und aufs Ganze betrachtet lohnt sie sich meiner persönlichen Erfahrung nach überhaupt nicht: Die Rücksichtsvollen, die Bedenkenträger*innen, die sich drei Mal um die eigene Achse drehen, ehe sie losmarschieren, sind später die Verarschten, die, die irgendwann fallen gelassen werden – nicht obwohl, sondern weil sie immer alles gegeben haben, selbst wenn es gegen die eigene Überzeugung ging (ich weiß, wovon ich spreche).

Rücksichtnahme  kann man nicht einfordern. Ganz verquer wird es, wenn Rücksicht auf die Rücksichtslosigkeit eingefordert wird. Toleranz der Intoleranz. Eine Frau kann anziehen, was sie will. Sie merkt selber, ob sie das Maß der Provokation überschreitet oder ob sie es vielleicht sogar aus irgendwelchen Gründen überschreiten will. DAS gilt es zu tolerieren und nicht diejenigen, die sich als die neuen Tugendwächter aufspielen.

Ende der Sechziger haben Frauen ihre BHs öffentlich verbrannt, um ihre Freiheit zu feiern. Heute sollen sie sich wieder taktvoll, rücksichtsvoll dem männlich-begehrlichen Blick unterwerfen – und der Hijab ist in Wahrheit ein Ausdruck individueller Freiheit der muslimischen Frau oder des 9-jährigen Mädchens, das sich natürlich selbst dafür entschieden hat. Wie bescheuert soll die Diskussion eigentlich noch werden?

Mit ideologischer Unterstützung des medialen Mainstreams verlieren wir uns gerade gerne im politischen Kleinklein, statt den Blick aufs Ganze zu halten. Was mich angeht, ist die Verteidigung der Freiheit des Gender-Ampelmännchens genauso wenig eine Heldentat wie die Proklamation des Hijab als Freiheitssymbol (womit den Verschleierungsgegnerinnen in muslimischen Gesellschaften der Kampf angesagt wird, also eher mal kontraproduktiv). Es ist allenfalls die sicherere Nummer als die echten Probleme anzugehen. Wenn Frauen wieder anfangen, sich moralisch infrage stellen zu lassen, ist alles das in Gefahr, was sie sich, was wir uns in den letzten sechzig Jahren erkämpft haben! Das ist das ECHTE Problem.

Deshalb verbreitet die Frau in Netzstrümpfen und Hot Pants für mich mehr revolutionäres Gedankengut als alle pseudoerregten Gender- und Ernährungs- und Holzkreuz-in-Ämtern-Debatten zusammen genommen. Weil sie an Grenzen geht.

Weil sie keine Angst hat.