Freitag. Wenn du ein ganzes und ein halbes Jahr lang betrogen wirst, und du erfährst es, dann sind alle Erinnerungen aus den Jahren davor vergiftet.
Das ist so mit das Schlimmste daran.
In meinem Fall sind es zwanzig Jahre meines Lebens. Ich weiß nicht, wie ich auf diese Jahre blicken soll. Ich weiß nicht, wie ich auf die blicken soll, die diese Jahre mit mit geteilt haben.
Ich vermeide den Blick zurück. Die Bilder sind kontaminiert oder stehen in Flammen oder sind ausgelöscht.
Der Protagonist meines alten Lebens hat das aus eigener, schlechter Erfahrung gewusst. Alles, was er in den eineinhalb Jahren getan hat, hat er wissentlich mir angetan.
Aus diesem Metebene-Blickwinkel ist er ein ganz anderer als der, den ich zwanzig Jahre lang in ihm sehen wollte.
Noch eine Erkenntnis, die den Blick zurück schwer oder sogar unmöglich macht.
Eine Erkenntnis, die den Blick aber auch frei macht. Um zwei Dinge habe ich zwanzig Jahre lang gekämpft: Solidarität und Empathie. Auf beides habe ich zwanzig Jahre lang freiwillig verzichtet. Und wenn ich mal genau hinschaue, vom allerersten Tag an.
Warum? Da setzt dann meine eigene Geschichte ein …
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… Die Begabung des von Max Weber so genannten “charismatischen Führers” liegt darin, die am schmerzlichsten durch eine gegenwärtige Notlage getroffenen Idealvorstellungen seiner Anhänger anzusprechen und hier Abhilfe in Aussicht zu stellen.
… Überspannte Forderungen des Führers müssen die Massenglieder früher oder später aber auch zu schweren Konflikten mit ihrem eigenen Gewissen führen.
… Im Führer selbst bewirken die Massen, die ihm zujubeln, eine gewaltige Inflation seiner Machterlebnisse. Auch er kostet den Triumph des Zusammenfalls von Ich und Ich-Ideal aus.
… Wird der Führer durch die Wirklichkeit widerlegt, verliert er im weltpolitischen Spiel die Kräfte, dann geht nicht nur er unter, sondern mit ihm die Inkarnation des Ich-Ideals der von ihm faszinierten Massen. Metaphorisch spricht man dann von einem Erwachen aus einem Rausch. …
(Rausch = falsches Bewusstsein, gekennzeichnet durch das Abdanken der bewussten Kritik.)
aus: Alexander und Margarete Mitscherlich: “Die Unfähigkeit zu trauern”, S. 72 ff