Mein Leben ohne mich

Man sagt ja immer, Bücher suchen sich ihre Leser. Mich hat eins gesucht und gefunden. Genau das Richtige für mein derzeitiges Mindset, was das Thema Tod angeht, mit dem ich mich wg. des Buchprojektes seit Jahren intensiv beschäftige:

Jutta Winkelmann: MEIN LEBEN OHNE MICH.

Ein Text von knapp 130 Seiten, der mir von der Mache her gefällt – nicht gefällig, sondern ganz im Gegenteil sperrig, aus sehr speziellen Erfahrungen erwachsen, niemals plattitüdenhaft. Ganz anders als alles andere, was sich in den Medizin- und Psychoabteilungen zu der Thematik sonst so finden lässt.

Der Tod ist unakzeptabel! Jede kleinste Besserung, und sei sie nur für Stunden, wird von Winkelmann als Befreiung erlebt und überschwemmt die Sterbende mit neu erwachender Hoffnung. Eine Beobachtung, die ich auch bei meinem Vater machen konnte, als er wenige Tage vor seinem Tod mit der Physiotherapeutin eine behutsame Übung machte: Er sollte ein Bein anheben, danach das andere – und es klappte! Ich saß etwas abseits auf einem Stuhl, tat als ob ich lese und konnte den Blick nicht von dem Szenario abwenden. Den Stolz im Gesicht meines Vaters, der sein Leben lang auf die Überholspur abonniert war, werde ich nie vergessen. Die Erinnerung daran treibt mir heute noch die Tränen in die Augen.

Niemand will sterben. Dieses verdammte, wilde, schöne Leben, nichts für Feiglinge. Loslassen, raten ihr die anderen, die Besucher, die um ihr Bett herum stehen. Die noch mitten im Leben stehen und nichts loslassen müssen. Aber wo, in Gottes Namen, kann ich mich festhalten? Nirgendwo. Ich beiße ins Kissen und schimpfe auf Gott.

Zwei Drittel des Sterbebuches von Winkelmann sind  Comic-Illustrationen im Stil einer Graphic Novel. Das halte ich für eine wunderbare Idee, obwohl ich sonst mit Comics nichts am Hut habe. Winkelmann war schon todkrank, als sie das Buch anfing. Schreibend tobt sie gegen den Krebs an, versucht ihn an die Kette zu legen, nimmt seine Überlegenheit nicht hin.  Ihr Leben während des Entstehungsprozesses ist zeitlich, aber auch räumlich begrenzt: Ein Krankenhauszimmer seit vielen Wochen, manchmal Ausflüge in ihre Wohnung zurück, kleine Spaziergänge im Krankenhauspark, dann wieder Operationen, immerzu peinvolle Untersuchungen mit noch peinvolleren Bad News, die es zu verkraften gilt, und erstaunlicherweise auch noch zwei Reisen mit FreundInnen nach Indien und Sardinien. Auf die Weise ist ein Pool von Tausenden von Fotos entstanden: Freunde, die sie besuchen, Reisefotos vom letzten Selbsterfahrungstrip, die technisierten Abläufe in der Klinik, der Tropf an ihrem dürren Arm, überhaupt ihr verfallender Körper immer wieder, ihre Kinder, der Arzt, der sich neben sie ins Bett legt, um mit ihr zu plaudern.

Schlimmer geht immer, ist ihr Leitspruch, wenn die Schmerzen sie wieder einmal an die Grenze des Erträglichen führen.

Sie hat Zeit. Sie beginnt, mit Fotoshop zu experimentieren und die Fotos in gezeichnete Bilder zu verwandeln. Sie fügte Sprechblasen ein: Was Freunde, Verwandte alles so von sich geben, die vielen Worte, sinnlos und doch aufgefangen von ihr als hoffnungssüchtige Empfängerin, während die schreckliche Krankenhausmaschinerie durch ihren Sterbealltag stampft.

Kein Happy End, weder im Text, noch im Comic. Unversöhnt mit dem Abschied, die große Weisheit lässt noch auf sich warten, die letzten Fragen des Universums sind nicht beantwortet, der Große Gott schweigt.

MEIN LEBEN OHNE MICH ist ein Sterbebuch. So ist Sterben. Solange man noch auf der Seite der Lebenden steht und sich klammheimlich, jeder für sich, für unsterblich hält – wie die Sterbende Jutta Winkelmann ja selbst auch immer wieder – , solltest du es einfach zur Kenntnis nehmen, dankbar und offen dafür, dass da eine es gewagt hat, so über das Sterben zu schreiben: Ohne Heldenpathos. Ganz ohne Glitterglanz. Keine von diesen Du-musst-es-nur-wollen-Geschichten (die den Sterbenden doch nur zutiefst kränken können). Wie Sterben ist – Wildes Heulen, wildes Beten. Und letztlich allein.