Nicht kompatibel

Mittwoch. 

Es gibt Menschen, die betrügen, und Menschen, die eher nicht betrügen.

Betrüger und Nichtbetrüger.

Das Betrügen kann man nicht nachsozialisieren. Genauso wenig, wie der Betrüger sich dahin gehend nachsozialisieren kann, nicht mehr zu betrügen.

Der Betrüger löst Konflikte durch Betrug. Er betrügt sich sogar selbst. Vielleicht glaubt er sich selbst. Das wäre eine Art Ehrenrettung. Vielleicht gibt es aber gar nichts zu retten.

Vielleicht hat der Betrüger mit Ehre einfach nicht so viel am Hut. Weil ihm andere Dinge wichtiger sind. Der Betrüger und der Nichtbetrüger haben sich unterschiedliche Strategien der Problemlösung angeeignet. Nicht kompatibel, sozusagen. In beider Leben hat sich die jeweilige Strategie der Problemlösung bewährt. Weshalb beide keine Notwendigkeit sehen, auf die andere Seite zu wechseln.

Der Nichtbetrüger ist insofern im Nachteil, als er den Betrug, den er als Problemlösungskonzept nicht auf dem Schirm hat, auch beim Anderen nicht wahrhaben will. Immer wieder sieht er sich im Zusammenspiel mit dem Betrüger damit konfrontiert und ist doch immer wieder aufs Neue überrascht. Sogar schockiert. Im schlimmsten Fall ist der Betrüger ein geliebter oder ein ehemals geliebter Mensch, dann ist der Betrug für ihn noch ungleich schwerer hinzunehmen als bei einem Menschen, der ihm nichts bedeutet.

Der Nichtbetrüger versteht nicht, warum der Betrüger betrügt.

Er glaubt, er will glauben, dass es sich um einen Irrtum handelt. Er will, dass der Betrüger sich bloß geirrt hat. Und hat er endlich begriffen, dass der Betrüger sich keineswegs geirrt, sondern wissentlich betrogen hat und dies wieder und wieder tut und auch in Zukunft tun wird und auch immer wieder vollkommen wissentlich, dann will der Nichtbetrüger wenigstens daran glauben, dass der Betrüger sich in seinem gesamten Problemlösungskonzept irrt, dies aber einfach nicht erkennt! Noch nicht erkennt. Also nicht erkennen kann. Womit er zunächst mal entschuldigt wäre.

Aber er soll es erkennen. Das wünscht sich der Nichtbetrüger inniglich, dass der Betrüger eines Tages erkennt, dass er betrügt. Und dann damit aufhört. Damit wieder eine Verständigung möglich ist. Das muss der Grund sein, diese herbeigesehnte Verständigung; ansonsten könnte es dem Nichtbetrüger wirklich egal sein, ob der Betrüger betrügt oder nicht.

Es ist ihm aber nicht egal. Nur ein einziges Mal will er ein einziges betrugsfreies Wort von ihm hören. Dieser Wunsch ist der Grund für die anhaltende und tiefe Beunruhigung des Nichtbetrügers.

Dem Nichtbetrüger wird sein Wunsch niemals erfüllt werden. Weil, siehe oben, alle beide ihre Problemlösungskonzepte nicht ändern können oder dürfen oder wollen. Darin ähneln sie sich.

Die Änderung muss demnach – wegen des höheren Leidensdruckes – beim Nichtbetrüger stattfinden: Er muss seine Hoffnung ändern. Er muss aufhören, dem Betrüger Chancen einzuräumen, denn der Betrüger will keine Chancen, jedenfalls keine Chancen, nicht zu betrügen.

Der Nichtbetrüger muss den Betrüger einen Betrüger sein lassen.

Und das Weite suchen.