Der amerikanische Schauspieler Richard Kiel ist im Alter von 74 Jahren in einem Krankenhaus in Kalifornien gestorben, sagt der Nachrichtensprecher beim Morgenkaffee.
Richard Kiel? Nie gehört. Doch mit dem nächsten Stichwort löst sich das Rätsel: Der Gegner von James Bond in Der Spion, der mich liebte und Moonraker, aaah, der Beißer, der Eisenbeißer, der mit seinem Stahlgebiss alles kaputt beißt und fies grinst und nie redet und immer überlebt, sogar, wenn Gebäude über ihm zusammenstürzen, augenblicklich habe ich ihn vor Augen.
Ist das so wichtig, wundert PM sich, dass sie das in den Nachrichten bringen?
Im Osten, sage ich, gab es das auch. Gebisse aus Metall.
PM trinkt Kaffee, guckt komisch.
In meiner Erinnerung steigen Bilder von alten oder auch nur alt aussehenden Männern und Frauen auf, die mich freundlich anlächeln und dabei silberblitzende Zähne freilegen. Vorderzähne! Ich erinnere mich auch an den leichten Grusel und dass ich diesen Eindruck erstmal verarbeiten musste, wie man seltsame Eindrücke eben ständig verarbeitet.
Das ist kalter Krieg, was du da machst. Sagt PM und macht ganz kalte Augen.
Kalter Krieg? Meint er das jetzt ernst oder scherzt er? Ist bei PM nämlich oft nicht zu unterscheiden.
Mit Osten meine ich nicht die DDR, sage ich schnell und merke im gleichen Moment, wie albern das in seinen Ohren klingen muss. Jeder meinte mit Osten, als es den Osten noch gab, auch und vor allem die DDR, wo nichts funktionierte und wo es nichts gab.
Ich aber nicht. Die DDR hatte für mich immer Sonderstatus. Ich mochte die DDR, ich war ein ausgemachter Fan des real existierenden Sozialismus.
Ich meine, ähm, Rumänien, Bulgarien und so. Die armen Länder des Ostblocks, sage ich.
Dann sag, in den ärmeren Ländern des Ostblocks gab es einige wenige Menschen, die Ersatzzähne aus Metall hatten, sagt PM.
Ja, okay, sage ich und überlege, wo ich diesen wenigen Menschen aus den ärmeren Ländern des Ostblocks nur begegnet sein könnte. Auf jeden Fall ist es schon sehr lange her, auf irgendeiner Reise war es, und G., mein damaliger Freund, war dabei, soviel ist sicher. Wir hatten darüber gesprochen, wie beschissen das sein muss, wenn du neue Zähne brauchst, und es gibt bloß welche aus Metall. Aus silbernem Metall. Silberne statt weiße Zähne. Das ist wirklich ein Unterschied!
In Ungarn vielleicht?, sage ich. Polen? Tschechoslowakei? Mit G., der damals Slavistik studierte und fließend Russisch sprach, war ich in einigen sogenannten Ostblockländern gewesen. Auch er war ein Fan des real existierenden Sozialismus, wenn auch verhaltener als ich.
PM guckt und wartet.
Oder Jugoslawien?
PM guckt spöttisch.
Nee, Jugoslawien nicht, da waren die Leute nicht so arm, sage ich.
Ach, die waren nicht so arm?, sagt PM, und ich denke, dass er jetzt bestimmt denkt, dass ich meine, nicht so arm wie in der DDR. Außerdem denke ich laut darüber nach, wieso er eigentlich seine Ferien nie in Jugoslawien verbracht hat, so wie er ja auch in Ungarn und in Polen gewesen ist.
Da gab’s ja den Tourismus, sage ich und erinnere mich an die vielen Campingurlaube mit meinen Eltern und Geschwistern auf einer kleinen FFK-Insel vor der Küste von Vrsar. Ich erinnere mich auch an die gut gefüllten Supermarktregale und an die Tito-Bilder, die in den Supermärkten hingen – auch so eine seltsame Sache – und dabei fällt mir ein, dass Titos Jugoslawien Blockfreier Staat gewesen war und DDR-Bürger nicht einreisen durften. PM guckt immer noch spöttisch. Scheiße aber auch, in was reite ich mich da gerade rein!
Vielleicht waren es auch Russen, sinniere ich. Russische Gäste kamen und gingen bei uns wegen der internationalen Kontakte, die G. schon als Student pflegte. Wir kannten einige Russen …
Mit solchen Aussagen schürst du nämlich die Vorurteile gegen den Osten, sagt PM. Solche Aussagen MACHEN nämlich erst, dass Leute aus dem Osten sich als Ostler fühlen!
Du weißt aber schon, dass ich niemals Vorurteile gegen den Osten hatte, sage ich und meine nun explizit die DDR, weil PM auch die DDR meint. Ich finde PM ungerecht. Immerhin gehörte ich mal zu der politischen Avantgarde, die zwischen der bloßen Verstaatlichung der Produktionsmittel (schlecht) und deren Vergesellschaftung (gut) zu unterscheiden wusste. Immerhin glaubte ich mal an einen demokratischen Sozialismus in einer fernen Zukunft der DDR und sah sein vorauswerfendes Licht in der Literatur von Kunert bis Wolf aufleuchten. Immerhin war die DDR für mich mal so was wie ein politisches Experiment.
Wir müssen ja keine Grundsatzdiskussion daraus machen, sagt PM.
Als wenn das nicht längst eine Grundsatzdiskussion wäre, sage ich.
Vielleicht fühle ich mich jetzt auch erst als Westlerin mit meinem schlechten Wessigewissen und meinen Wessischuldgefühlen, denke ich und sag es lieber nicht.
Im Übrigen gibt es auch ärmere Länder im Westen, sagt PM. Was ist mit Griechenland? Du warst doch auch mal in Griechenland?
Stimmt, sage ich und denke: Verdammt! Vielleicht waren das tatsächlich Griechen, diese Leute mit den silbernen Zähnen. Sechs Wochen lang waren G. und ich durch den Peloponnes getrampt, und weil G. nach kürzester Zeit die Landessprache beherrschte und in der Lage war Unterhaltungen auf Griechisch zu führen, lernten wir Griechen aller Altersstufen kennen und wurden immerzu und überall zum Essen eingeladen.
Nicht zu vergessen die mehrtägige Bahnfahrt nach Brindisi, bevor es mit der Fähre nach Athen weiter ging. Saßen da nicht zwei so Alte mit uns im Abteil, die uns ständig von ihren Knoblauchwurstbroten und ihren selbstgeernteten Gurken anboten und ihre Späße über uns machten und feixten, mit diesen Zähnen …
Haben die Metallgebisse also doch nichts mit dem Osten …?
Sie haben. Ich bin mir ganz sicher. Ich weiß plötzlich sogar wieder, wo. Nix Griechenland! Aber das muss ich ja jetzt nicht raushängen.