Samstag, B.N. Heute in Eisenach.
PM’s Eltern. Das Altwerden. Das Altsein. Diese Angst auf beiden Seiten, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Die Angst vor dem schlechten Gewissen (auch auf beiden Seiten?). Da muss man aufpassen, da muss man auch mal abwehren und das Herz kalt werden lassen, um sich selbst in Abstand zu setzen.
PM’s Vater hat mir vor einem Jahr ein Auto geschenkt, das sollen wir jetzt endlich abholen. Einen roten Opel Kadett, Baujahr 1991. PM’s Vater, seinerzeit Deutsch- und Lateinlehrer mit immer noch großer Fangemeinde, marschiert voran. Am Gehstock, vier Stockwerke runter und rüber zur Garage, was ihm schwerfällt, was er aber nicht zeigt. Er selbst fährt das Auto unter respektablem Geholper auf die Straße, steigt dann um auf den Beifahrersitz und überlässt mir Schlüssel und Steuer.
Er ist ängstlich. Und traurig. Sein Auto. Sein Westauto! Ich fahre los, es geht ganz leicht, ich glaube, er wundert sich ein bisschen, dass sein Auto auch bei / mit mir fährt.
Jetzt in den zweiten Gang, sagt er: Ab 40 dann in den dritten. Jetzt rechts, ja. Und bremsen. Sehr schön. Sie fahren sehr schön. Sie fahren ja besser als ich! Das war einmal ein Schloss, hier. Und auf der anderen Seite, das waren alles die Eisenacher Autowerke, bis hierher. Jetzt ist das natürlich neu gemacht, nicht wahr? So, und jetzt gehen wir tanken, dann zeige ich Ihnen, wie das alles funktioniert, ja? Hier rechts rein, am besten warten wir auf den Roten da, der fährt gleich weg, der Tank ist rechts, Sie müssen also immer links zur Tanksäule stehen, verstehen Sie? Jetzt geben Sie mir mal den Schlüssel – er steigt aus, ich nach – und jetzt öffne ich den Tankdeckel, so, und so rum, und jetzt Sie!, noch einmal, ja sehr schön, wir tanken ganz voll? Ich weiß gar nicht mehr, wieviel da reingeht, der braucht so seine sechs bis acht Liter, je nachdem, wie Sie es mit dem fünften Gang halten. So, und jetzt zeige ich Ihnen noch alles, was im Kofferraum drin ist, ach so, erst bezahlen, na ja, dann machen wir das später.
Jetzt müssen wir aber, sagt er, als ich von der Kasse zurückkomme, auch noch auf die Autobahn, damit Sie das üben, verstehen Sie? Damit wir den fünften Gang üben. Wir fahren zuerst nach Wutha, da ist die Straße fast unbefahren, da können Sie sich an das Auto gewöhnen. Sie machen das sehr, sehr gut. Ist es nicht schön hier? Diese Landschaft? Na, was sagen Sie? Ich zeige Ihnen jetzt zuerst die alte Autobahn. Sehen Sie nur, wie schön es hier ist. Jetzt links abbiegen, jetzt gleich einordnen, da links!, ja, sehr schön. Sehen Sie, die alte Autobahn. Und jetzt können Sie schon mal in den fünften Gang, ach, haben Sie schon, Sie machen das ja wirklich sehr gut. Ja.
Wir fahren und alle sind zufrieden. PM sitzt etwas geduckt auf der Hinterbank und sagt kein Wort und kriegt sich nicht mehr ein, im Rückspiegel sehe ich seine Faxen.
Wir fahren anders zurück, sagt PM’s Vater, damit Sie mal ein Gefühl für die Stadt bekommen. Sehen Sie, da sind wir vorhin lang gefahren, sehen Sie das? Jetzt kommen wir von der anderen Seite rein. Kennen Sie es wieder? Der Park hier war früher eine Gartenkolonie, jetzt ist es ein Spielplatz, ja und jetzt links, das kennen Sie ja, nicht wahr?, und da ist schon unser Haus.
Ja, tschüss dann!, sagt PM’s Vater zu seinem Auto, als er ausgestiegen ist und davor stehenbleibt wie zu einer Gedenkminute: Und mach’s gut.
Nach dieser grandiosen Einweisung, nach dem Abschiednehmen von zwei sehr alten Menschen, die dicht beieinander hochoben am Fenster stehen und winken und betagt und besorgt aussehen, fahren wir nach Hause. D.h., zuerst gehts zu Rewe. Wo PM Thüringer Wurst und das Thüringer Brötchen beides in großen Mengen kauft. Weiterfahrt bei Regen und beginnender Dunkelheit. Zweimal telefonieren wir, das ist ein bizarres Gefühl, mit PM zu reden, während er vor mir her fährt, ich kann seinen Kopf sehen, sein rechtes Ohr, und auf einmal mache ich mir Sorgen um ihn. Wir halten an einer Raststätte, beide Autos jetzt nebeneinander auf dem Parkplatz. Läuft doch!, sage ich, und PM macht ein paar lange Schritte und dreht sich auf dem Absatz, wie es seine Gewohnheit ist.
Noch ca eine Stunde. Die ausgedruckte Routenbeschreibung und das Handy liegen griffbereit auf meinem Beifahrersitz, für alle Fälle. Die maximale Geschwindigkeit des Kadett beträgt 110 km/St., bergauf gar 70 bis 80 km/St., da kannst du nichts machen, da kannst du das Gaspedal noch so durchtreten. Du fühlst mit dem Auto, würdest es am liebsten ein wenig streicheln. Alles Mechanik. Du schaltest selber und entscheidest selber, ob Licht oder kein Licht. Du drückst oder drehst Knöpfe, statt auf ein Display zu touchen, du lauschst auf jedes Geräusch und denkst Ohgottohgottohgott! und Das schaffst du, Kleiner, und Endlich habe ich wieder ein Auto, und Das mit der Autobahn, das lassen wir in Zukunft vielleicht lieber. Aber für die Stadt bist du perfekt.
PM fährt mit seinem A7 voran, viereinhalb Stunden lang statt wie sonst drei, mit Tempo 80 oder 100 statt wie sonst 180, und passt auf, dass keiner sich zwischen uns schiebt.
Er fährt voraus und ich folge ihm, Scheiße, was für ein symbolträchtiger Satz.