Schöne Tage in Erfurt

Sonntag früh, Erfurt. Aufwachen und Fenster auf: Penatenblauer Himmel, unter mir der Anger. Was bis gestern nur ein Name war, sind jetzt diese wahnsinns Häuserfassaden und in der Morgensonne funkelnde Schaufenster und sachte dahingleitende Straßenbahnen. Eine frühe Seniorentruppe läuft hinter ihrem Stadtführer in albernem historischem Kostüm her, während ein paar Restbesoffene in den Ladeneingängen abhängen und in den hellen Tag blinzeln.

Erfurt. Für mich seit Freitag Abend die schönste Stadt der Welt. Mit meinem Rollköfferchen laufe ich fast eine Stunde rum, bevor ich mich entschließen kann im Hotel einzuchecken. PM ist noch nicht da, und ich baue Geschenke, Kerzen und mikroskopischen Gugelhupf in Pralinéformat im Hotelzimmer auf, PM hat Geburtstag. Als er dann reinkommt mit seinem großen, verbeulten Rollkoffer und seinen schnellen Schritten, ist er zu aufgedreht zum Feiern. Hier ist er mit seiner Vergangenheit konfrontiert, und gleich treffen wir Sabine und Kerzen aus und Danke! Sabine wohnt gleich um die Ecke, aber bloß nicht schon wieder sitzen und lieber erstmal was essen und später noch ein bisschen rumlaufen.

In den nächtlichen Straßen geht’s los mit Weißt-du-noch-hier und Wie-hieß-denn-der-nochmal und Da-bin ich-doch immer, PM weiß noch nicht, ob er sich zu Hause fühlt oder wie ein Tourist, und irgendwie sieht nichts mehr so aus wie früher und wie es aussehen sollte, und die Kneipen sind auch nicht mehr das!, oder sie sind spurlos verschwunden. Ach du grüne Neune!

Sabine hat Cointreau im Schrank, ich werd nicht mehr! Nicht nur deshalb herrscht allerhöchste Spontan- und Intensivsympathie zwischen uns. Ihr Mann war PMs bester Freund. Vor fünf Jahren ist er an Krebs gestorben. Sabine lebt noch mit ihm, er ist sehr gegenwärtig, sogar für mich, die ihn gar nicht kannte. Aus ihrer schicken, sanierten Altbauwohnung zieht sie nächsten Monat aus. Preise wie im Raum Stuttgart, und tatsächlich gehört das Haus einer Stuttgarterin, wie so viele der prunkvollen Jugendstil- und Bauhausvillen Leuten aus den alten Bundesländern gehören, oder Sizilianern, die sich direkt nach der Wende hier im großen Stil eingekauft haben, oder der Sparkasse.

Wo ein Wille ist, da ist auch ein Schuhgeschäft, und so beginnt der Samstag mit einem Paar Schuhe von ZumNorde. (So heißt auch unser Hotel direkt daneben, mit dem die Brüder ZumNorde ihren Jugendtraum wahrgemacht haben.) Das Objekt meiner Begierde sind furchtbar coole Stiefel von A.S.98 mit verdrehtem Absatz und eingebautem Draht im Schaft, sodass man ihn in die gewünschte Form biegen kann, wo gibts denn sowas?

Zu Dritt laufen wir durch die Stadt, die wir am Abend davor nur im Dunklen gesehen haben, also ich jedenfalls, die beiden anderen kennen sich ja bestens aus. Sabine und PM haben viel gemeinsame Vergangenheit, die DDR, die Medizinische Akademie, die es nicht mehr gibt, die aus finanziellen Erwägungen geschlossen wurde, was ihnen immer noch weh tut, die Kneipen, die Anekdoten, die Heldentaten, die Operationen, die 72-Stunden-Dienste, die Familienmarotten und -tragödien, unsere Mütter, unsere Väter.

Überall diese verwunschenen Ecken, wo die Gera an Häusermauern vorbei plätschert, klares Wasser über flachem Kieselboden, und die Trauerweiden bis zum Wasserspiegel herabhängen. Wir beugen uns über Brückengeländer aus Stein oder Holz und sehen dem sanften Strom dabei zu, wie er Büschel von Seegras lang zieht wie grünes Nixenhaar.

 Wir reden vom Wohnen und Zusammenwohnen und Woauchimmerwohnen und vom Ankommen und Nichtankommen. Wir sind alle ein bisschen heimatlos, auf der Suche, auf der Suche nach Lösungen. Wir sind optimistisch. Wir sind die Generation, die sich neu erfindet, also ich sehe das jedenfalls so. Wir haben Pläne…