Mittwoch. Ist Sadomaso der Grund für den Erfolg von Fifty Shades of Grey? Der Erotikroman handelt von einem Sex-Experiment. Hat man sich erstmal auf das 600-Seiten-Brikett eingelassen, will man auch wissen, wie es ausgeht. Aber keine Sorge: Richtig gefährlich wird es nicht.
Zum ersten Mal in ihrem Leben ist die junge, unerfahrene Studentin Ana Steel richtig scharf auf einen Kerl. Ihren Mister Superman findet sie in dem reichen, universalkompetenten Sexexperten Christian Grey, und er bringt sie dazu, einen Vertrag zu unterschreiben: Drei Monate lang soll sie ihm als Sub, als Sexsklavin, zur Verfügung steht.
E. L. James gibt sich wenig Mühe.
Mr. Grey mit seinen grauen Augen ist „unverschämt attraktiv“, ja, „nicht nur attraktiv, sondern der Inbegriff männlicher Schönheit“. Wenn er etwas sagt, „grinst“ er „spöttisch“ oder „amüsiert“ oder „wölfisch“ und „guckt dunkel“, manchmal gar „düster“. Okay, hin und wieder reicht es auch für Vergleiche:
„Seine Stimme klingt warm und verführerisch wie dunkler Schokoladenkaramell.“
Hm.
Ana, die Heldin des Romans Fifty Shades of Grey, ist 21 Jahre alt und noch Jungfrau. Bevor sie Mr. Grey trifft, hat sie noch nie im Leben das Bedürfnis verspürt, geküsst zu werden. Wenn sie etwas sagt, „murmelt“ sie ziemlich oft (Verlegenheit), sie „flüstert“, „krächzt“ (Hilflosigkeit), „stottert“, „stammelt“ (Verlegenheit oder Hilflosigkeit). Manchmal „quäkt“ sie sogar, was ihren emotionalen overkill beschreiben soll. Dann wird sie „blass“ oder „rot“ („puter-„, „knall-“ und „tiefrot“) und ihr „Puls rast“.
Sie redet non stop mit ihrem Unterbewusstsein, und das stört nun wirklich. Mit dem Unterbewusstsein, sprich: Unbewussten, lässt sich bekanntlich nicht reden, sonst wäre es eben nicht unbewusst. In Wahrheit führt Ana Seite um Seite stumme Selbstgespräche, durch die der Rezipient erfahren soll, was die Heldin denkt, während sie etwas anderes sagt. Das kapiert man aber auch ohne die Selbstgespräche, denn außerdem wird sie ja auch noch rot oder blass und stammelt oder krächzt (s.o.).
Was die Autorin mit dem Unterbewusstsein meint, ist in Wahrheit das Über-Ich:
„Was sollte jemand wie Christian Grey schon von dir wollen, verspottet mein Unterbewusstsein mich.“
Oder, noch deutlicher: „Du bist total unsportlich, erinnert mich mein Unterbewusstsein. … Du hast mit ihm geschlafen, einem Mann, der ziemlich merkwürdige Dinge mit dir vorhat und dich zu seiner Sexsklavin machen will. Bist du verrückt?, keift (!) es.“
Das Über-Ich spielt eine entscheidende Rolle in Fifty Shades of Grey, ohne dass es auch nur ein einziges Mal explizit genannt wird: Alles, was geschieht, ist gesellschaftlich abgesegnet, konform, unanstößig – soviel vorweg. Angeheizt durch die Verlagswerbung, hoffen Leserin und Leser die ganze Zeit auf den großen Knall, der in Gestalt von Greys sexueller Obsession – und verbal manifestiert in dem mehrseitigen Sexvertrag – ja durchaus auch auf den Plan tritt. Martialische Ausdrücke fallen darin, wecken schwülstigen Ekel und eine lüsterne Angst vor der Perversion: Wird Ana sich etwa darauf einlassen? Dann müsste es jetzt ja richtig abgehen!
Die Lösung des Konflikts oder die Wende ereignet sich, wen wundert es, genau auf der Hälfte des Buches (oberste Kreative-Writing-Regel): Ana verhandelt die Vertragsbedingungen so geschickt aus, dass alles, was extrem ist – die so genannten „hard limits“ – gestrichen wird. Die Leserin darf sich erleichtert – oder ein wenig enttäuscht? – zurücklehnen, Ekel und Angstschauer sind schnell wieder vergessen.
Wofür nun eigentlich noch die zweite Hälfte? Na ja, ein bisschen gewagt bleibt es schon, auf was die schüchterne Heldin sich da einlässt, und so schüchtern ist sie irgendwie auch gar nicht, nur ziemlich dumm und unwissend. Aber sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, wie man sagt. Sie hat das gesellschaftliche Gewissen – das Über-Ich – auf ihrer Seite.
Und das wird von der Autorin fleißig instrumentalisiert, um Greys Weg als den dunklen, irregeleiteten, zweifellos falschen Weg zu kennzeichnen, von dem die gute Ana ihn erlösen und auf den hellen Weg führen wird. Indem die Autorin sich so von Greys Leidenschaften distanziert, macht sie sich komplett unglaubwürdig. Erstens, weil es dieses Entweder-Oder nicht gibt. Leidenschaftliches Lieben hat immer eine helle und eine dunkle Seite und ist zutiefst antagonistisch. Zweitens ist Greys Obsession das Herzstück ihres Romans, vom Verlag marktstrategisch folgerichtig zum Hot Spot erklärt. Doch zugleich wird es demontiert: Grey ist gestört, er hat eine schwierige Kindheit, „einen schlechten Start“ gehabt, das wird ganz schnell zu Beginn der zweiten Hälfte klar, er hat auch schlimme, geheimnisvolle Narben auf der Haut. Grey braucht Heilung, und Heilung verspricht Ana.
Ana steht für sauberen Sex. In Wirklichkeit ist sie eine Hygienebesessene:
„Er drückt mich so fest gegen seine Brust, dass ich seinen Geruch einatmen kann. Er duftet atemberaubend nach sauberer Wäsche und teurem Duschgel. Gierig sauge ich den Geruch ein.“
Gierig nach Duschgel und sauberer Wäsche – damit ist Ana das Gegenteil von, sagen wir mal, Charlotte Roches Heldinnen. Diese erkennen nämlich, worum es bei echtem Sex geht: Fassaden bröckeln zu lassen anstatt sich dahinter zu verstecken. Nicht der perfekte, fotoshopbearbeitete Body ist oder macht geil, sondern der fehlerhafte, unvollkommene und ergänzungsbedürftige Körper, der es dem Liebespartner erlaubt, sich ebenfalls fehlerhaft, unvollkommen und ergänzungsbedürftig zu zeigen.
Sobald in Fifty Shades of Grey die Fassade anfängt zu bröckeln, zum Beispiel durch das Eingestehen ungewöhnlicher Wünsche und Sehnsüchte, also durch Greys ‚fehlerhafte‘, ergänzungsbedürftige Seele, kommt E.L. James mit der Moralkeule. Sie und Ana Steele mit ihrem stählernen Bewusstsein von Gut und Böse verstehen Greys Problem, und auch die Leserin soll es verstehen. Spielt er doch so traurig und fabelhaft Klavier, und manchmal grinst er auch gar nicht, sondern guckt „verstört“. Das ist dann das verschüttete Gute in ihm, das aber viel zu verschüttet ist, um es auf 600 Seiten frei zu schaufeln (weshalb der Verlag noch zwei Mal so viele neue Seiten in Aussicht stellt). Es wirft jedoch schon mal einen deutlich hellen Schein voraus, um uns begreiflich zu machen, warum Ana überhaupt auf diesen Freak abfährt.
Definitiv: Fifty Shades of Grey ist kein Pornoaufreger. Sondern eine ganz konservative, romantische Kleinmädchen- und Entsagungsstory mit eingestreuter, aalglatter Softerotik von der Copy-and-Paste-Stange. Das Ende ist absehbar und kann in diesem Paradigmenkorsett nicht anders sein: Nachdem Ana an ihrer hehren Aufgabe gescheitert ist, muss sie Grey aufgeben:
„Ich habe ihn verlassen. Den einzigen Mann, den ich je geliebt habe.“
Grenzen werden nie überschritten. Alles geht politisch korrekt zu: Sauber, antibakteriell, antialkoholisch sogar, gesund und sehr, sehr konsumorientiert.
Der Grund, warum der Roman so massenhaft gelesen wird: Er stellt nichts und niemanden infrage. Das Experiment ist ungefährlich, ohne wahres Risiko. Es enthält die Illusion einer in Watte gepackten Leidenschaft. Die Story ist flach, sie entspricht dem Zeitgeist. Die Leserin bleibt mit sich im Reinen. Auch sie würde entsagen, schließlich ist Entsagung einfacher als sich dem Schwierigen zu stellen. Und vielleicht könnte auch sie es gelegentlich mal mit ein bisschen Bondage probieren, scheint ja nichts zu schaden.
Aussicht:
Für die beiden angekündigten neuen Bände gibt es nur zwei mögliche Lösungen: Ana schafft es doch noch, das Gute im Bad Boy zu wecken, Grey und sie heiraten, sie wird schwanger und Greys Sexspielzimmer wird zum Kinderzimmer umfunktioniert. Oder aber sie schafft es nicht, lässt das böse sexuelle Intermezzo hinter sich und heiratet José, den Fotografen, oder Baumarkt-Paul (beide sehen auch sehr gut aus), und, ach ja, sie wird schwanger.
Ich tippe auf die erste Variante. Wetten?
(Tübingen, Mai 2012)