Leute

Sonntag Morgen. Endlich Regen. Die schwüle Hitze der letzten Wochen, immer nur von kürzesten Gewittern oder Schauern unterbrochen, wenn überhaupt, hat meine Balkonpflanzen dahinkümmern lassen und mir ganze Tage lang die Lebensenergie abgewürgt. 40 Grad wundern inzwischen niemanden mehr. Jetzt, um sechs Uhr morgens, zeigt das Thermometer 23 Grad an.

Gestern Stadtfest in Tübingen. PM und ich schieben uns durch die Massen, haben schnell keine Lust mehr und verziehen uns in die GzP, wo man wunderbar spitzwegmäßig in einem Hof mit Ecklaternchen und Blumenkübeln und holprigen Pflastersteinen und gestern Abend sogar mit Blick auf Vollmond sitzt. Die Kneipe soll für Literaten und Bücherliebhaber sein, so das Konzept des neuen Eigentümers. Das ist der Schweizer Urs Kummer, dem früher Edition Epoca gehört hat und der immerzu in Bewegung ist, als hätte man ihn mit einem großen Schlüssel hinten am Rücken bis zum Anschlag aufgezogen.

Am Nachbartisch sitzen Rolf und Caroline Vollmann. Caroline hat einen neuen Übersetzungsauftrag, ein 500-Seiten-Roman. Sie will wissen, woran ich gerade schreibe. Rolf schweigt lieber und verschwindet irgendwann grußlos. Sie wohnen ja quasi um die Ecke. Eckuzz, früherer Schlagzeuger von den Savants, kommt kurz an unseren Tisch und erkundigt sich nach T. Er scheint zu wissen, dass demnächst eine neue Platte erscheint. Seit einem halben Jahr hat er eine feste Stelle und sieht richtig gut aus in seinem weißen Hemd und mit seinem aufgeräumten Lachen. Als Heimatvertriebene aus dem Ruhrpott – Eckuzz kommt aus Lünen – verstehen wir uns ohne Worte. Michael Langer läuft vorbei und erzählt von seinen tausend Kindern. Mieciu Langer ist, wie ich jetzt erst erfahre, schon seit zwei Jahren tot, erst im Alter von 80 Jahren hatte er angefangen, öffentlich über seine KZ-Vergangenheit zu reden, zum Glück habe ich ihn noch gehört.

PM redet von alten Zeiten und später, auf meinem Balkon, spielt er mir Ostrock vor. Karat, Puhdys, Renft, da kommen Geschichten bei ihm hoch, die ich nicht kenne und an denen ich keinen Anteil habe. Das könnte mich traurig stimmen, tut es aber nicht, weil PM auf diese grundsätzliche Weise bei mir ist, wie ich das nur mit ihm erlebe. Komisch, dass man / ich für manche Erfahrungen lebenstechnisch ziemlich weit fortgeschritten sein muss, um sie sich / mir zu erlauben.

PM schläft noch, Steve auch, jedenfalls ist nichts zu hören, ich hol gleich frische Brötchen, der Regen hat aufgehört und über dem Galgenberg brennt sich schon wieder die Sonne, die Unverwüstliche, durch die Wolken, durch die offenen Fenster riecht es nach nassem Gras und Asphalt, und wenn ein Auto unten auf der B27 vorbei fährt, zischt es schön.