Social Freezing? Heißt im Klartext: Eizellen werden auf Kosten der Firma eingefroren, um gut ausgebildete, weibliche Arbeitskräfte nicht an Heim und Herd zu verlieren. Statt schwanger zu werden, sollen sie sich auf ihre Karriere konzentrieren – soviel zu social und soviel zum neuesten Coup von Facebook und Apple: Die beiden Big Tech-Player bieten ihren Mitarbeiterinnen erstmals die Eizell-Konservierung aus nicht-medizinischen Gründen an, vorgeblich, um ihnen die Organisation wichtiger Lebensentscheidungen zu erleichtern. Na klar!, und kein Wunder, dass die damit angestoßene arbeitsethische Kontroverse derzeit die Gemüter bewegt.
Frauen dürfen ihren Kinderwunsch also auf später verschieben. Die biologische Uhr tickt nicht mehr. Mit voller Kraft können weibliche Arbeitskräfte jetzt in das eigene berufliche Fortkommen investieren. Beziehungsweise in ihre Firma, die damit zu so einer Art Familienersatz wird. Sie sind der Zeit enthoben: Ihre Zukunft liegt tiefgefroren allzeit bereit.
Als ich das erste Mal von Social Freezing hörte, musste ich nicht nur an Orwells Dystopie 1984 denken, sondern auch an ein altes, abgegriffenes Taschenbuch vom Bücherflohmarkt, dessen radikalfeministische Thesen mich lange nach ihrem Entstehen nachhaltig beeindruckt hatten: Frauenbefreiung und sexuelle Revolution von der US-Frauenrechtlerin Shulamith Firestone. Sie entwickelt darin die Idee der generellen künstlichen Reproduktion als moderne Alternative zur herkömmlichen Form der Empfängnis – allerdings war ihre Motivation eine völlig andere als die der aktuellen Debatte. Ihr Kampf war an einer von allen Klassenunterschieden und von allen Geschlechterunterschieden befreiten Gesellschaft ausgerichtet. Als wichtigster Schritt in diese Richtung galt ihr der von männlicher Kontrolle losgelöste Zeugungsakt.
Frauenbefreiung und sexuelle Revolution war ein Grundlagenwerk des sozialistischen Feminismus aus den Siebzigern, und Firestones Theorien schlugen ein wie eine Bombe. Weil sie wagemutige, bis dahin ungehörte Denkansätze durchspielten, weil sie zum Umdenken aufforderten. Social Freezing dagegen will etwas ganz anderes: Einziges Ziel ist hier die arbeitsmarkttechnische und ökonomische Maximierung der Gewinne.
Fährt sich eine Gesellschaft, in der zweckdienliche Vorgänge wie dem o.g. wahrscheinlich zunehmend praktiziert werden, noch dazu unter dem tricky Leitwort sozial, nicht selbst an die Wand? Sind wir mit unserer großartigen Aufklärung, von der wir nach wie vor unbeirrbar annehmen, dass ihre Errungenschaften bis in die hintersten arabischen Emirate leuchten, mit unserer hehren Demokratie und unseren Menschenrechten, angesichts solcher Pläne im Gepäck nicht wirklich am Ende?
Kinder sind nicht länger das Resultat einer Liebesnacht, sondern eines Arbeitgeber-Wirtschaftsplanes. Zuerst noch eine Fortbildung gemacht, zuerst noch ein paar Kunden über den Tisch gezogen, und dann geht es ans große Auftauen. Dass die Risiken für Mutter und Fötus mit steigendem Alter zunehmen, interessiert niemanden. So schnell wie der Fötus eingepflanzt wird, so schnell ist er ja auch wieder rausgespült, falls er sich laut regelmäßig durchgeführter Tauglichkeitstests nicht bewährt. So what?
Dass die Menschenrechte damit den ökonomischen Interessen zum Opfer gebracht werden – wie auch zwischenmenschliche Beziehungen und nicht zuletzt die Romantik, um das Drama mal beim Namen zu nennen – , interessiert auch nicht weiter. Oder hat jemand die Kinder gefragt, wie sie dazu stehen, dass sie ihre Existenz einer Kosten-Nutzen-Berechnung vom mütterlichen Boss verdanken? Hauptsache, der Laden brummt, und wenn der Boss froh ist, ist Mutti es auch. Am frohsten wird er allerdings sein, wenn es nichts wird mit den lieben Kleinen aus den Gefrierboxen. Kinderlos stehen die Frauen ihm immer noch am reinsten zur Verfügung.
Merkwürdig, dass gerade in den letzten Wochen immer wieder Berichte von ganz jungen Männern und Frauen auftauchen, die unserer Gesellschaft den Rücken kehren und sich dem IS-Terror in Syrien anschließen. Was treibt sie in die Arme der Radikalislamisten? Lesen sie keine Zeitung? Sehen sie die Bilder nicht? Von den öffentlichen Hinrichtungen? Von den Gewaltorgien? Von den komplettverschleierten Frauen, deren Blick auf die Welt nicht einmal mehr durch einen Sehschlitz fallen darf? Die, bevor sie verkauft und versklavt werden, mit Ketten aneinander gebunden abgeführt werden wie Vieh zum Markttag?
Vielleicht verliert unser Gesellschaftsmodell an Überzeugungskraft. Vielleicht hat es ausgedient. Immer häufiger überraschen ehemalige Banker und Börsianer mit ihren Grundsatzzweifeln an der am Wachstum orientierten Marktwirtschaft. Der Einzelkampf, der Konkurrenzdruck, der allgegenwärtige Zwang zur Optimierung in Gestalt von Evaluierung und Selbstevaluierung haben uns sehr, sehr müde gemacht.
Die Kirchen halten sich zu all dem bedeckt. Schade, schade, schade, dass Margot Käßmann ihr Amt für ihren guten Ruf aufgegeben hat. Sie hatte die Power, Wahrheiten auszusprechen: Unvergessen ihr berühmter Satz „Nichts ist gut in Afganistan.“ Wie heißt eigentlich der derzeitige Landesbischhof? Und wäre der Schutz des ungeborenen Lebens nicht Kernthema der kirchlichen Ethik?
Die einzigen Werte, die uns bzw. die mediale Welt beschäftigen, sind die Befindlichkeiten der Konjunktur. Aufschwungphasen und Hochkonjunktur machen uns glücklich (sollen uns glücklich machen), Rezession und Depression rufen ebensolche in unserem psychischen Haushalt hervor.
Ist es das, was die Gesellschaft guten Gewissens ihren Kindern beibringen will? Sorry, Gewissen! – klingt so old school wie Tugend oder Moral, als entstammte es irgendwie einem längst versandeten Äon.
Womit wir, so zumindest eine mögliche These, bei der Attraktivität religiöser Heilsbotschaften wären. Der „Islamische Staat“ (IS) weiß zwischen Schwarz und Weiß zu unterscheiden, während von komplizierten Grauabstufungen da eher mal nicht die Rede ist. Bei uns dagegen ist alles grau. Alles relativiert sich. Du musst es nur lange genug hin- und herwenden.
Und so gewinnen archaische Vorstellungen von rein und unrein, von ehrenvoll und ehrlos plötzlich eine nie geahnte Aktualität mitten in unseren säkularen Gesellschaften, die auf metaphysische Fragen keine Antworten haben und der Sehnsucht nach Transzendenzerfahrung nur Ignoranz oder Hilflosigkeit entgegenhalten.
Unsere Vision ist das Wachstum des Marktes. Heute die Verheißungen von Social Freezing, morgen ein anderes zynisches Modell. Irgendwie gewöhnt man sich an alles. Das ist ziemlich armselig für eine Gesellschaft, die sich mit soviel Stolz auf die Tradition der menschlichen Vernunft beruft.