Samstag. Ein Mädchen ist ermordet worden (Susanna Feldmann, 14 Jahre), und eine Partei, nämlich die AfD, nutzt die Gunst der Stunde und legt – klar, aus propagandistischen Zwecken – im Bundestag eine unangekündigte Schweigeminute ein.
Verdammte Axt, wie verhält man sich da? Spontan zu reagieren, ist unseren Politiker*innen nicht mehr gegeben, alles, was sie sagen, ist in der Regel im Vorfeld fein mit der Nichtssager-Pinzette zurechtgezupft. Spontan ist gefährlich! Aber irgendwas muss ja jetzt passieren, oh Gott!, bloß was? Aufstehen und mitschweigen und das Zugeständnis riskieren, dass die falsche Partei möglicherweise gerade das Richtige tut, oder nicht nicht aufstehen und dazwischenreden?
Die Angst vor der AfD bewirkt, dass alle anderen Abgeordneten erstmal gar nichts tun. Eine sichtlich nervöse Claudia Roth beendet schließlich die Schweigeminute und verscheucht den AfD-ler vom Rednerpult.
Wie mag diese Reaktion der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages auf die Eltern der ermordeten Susanna wirken?, das ist die einzige Frage, die sich mir (als Mutter?) in dem Moment aufgedrängt hat. Denn auch die Reaktion von Claudia Roth und den anderen Abgeordneten geschieht ausschließlich aus propagandistischen Zwecken. Nicht das Mordopfer steht im Fokus, nicht das Leiden einer Familie, sondern die Abgrenzung von der AfD, die allein die Handlungsweise bestimmt.
Böswillig könnte man sagen: Eins zu Null für die AfD. Das ist ganz schön viel angesichts der momentan aufgeheizten Stimmung. Respekt hat sich die Riege unserer Politiker*innen mit diesem Auftritt nicht verdient, von rechts nach links nicht. Offenbar geht es nur noch um Taktik, um das Re-Agieren, nicht mehr um ein selbstbestimmtes Agieren.
Dummerweise ist der Täter ein polizeibekannter, schlimmer Finger aus dem Irak, dessen Verbleib in Deutschland längst abgelehnt wurde (Diebstahl, Widerstand gegen eine Polizistin, Verdacht der Vergewaltigung einer 11-Jährigen), der aber bisher noch nicht abgeschoben werden konnte. Nun aber floh dieser junge Mann, Ali B., mit seiner Familie binnen kürzester Zeit und unter falschem Namen aus Deutschland über die Türkei in sein Heimatland Irak. Zum Glück konnte er in der Nacht auf Freitag von kurdischen Sicherheitsbehörden im Nordirak auf Bitten der Bundespolizei festgenommen werden, wie gestern Bundesinnenminister Horst Seehofer bei der Innenministerkonferenz in Quedlinburg bekannt gab.
Die Innenminister der Länder zeigen sich erschüttert und warnen vor Verallgemeinerungen: „Das ist ein schreckliches Verbrechen, die Tat eines Einzelnen“, sagt Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) am Freitag in Quedlinburg am Rande des Treffens mit seinen Länderkollegen. Leider weiß jeder, der gestern Abend die Tagesschau gesehen hat, dass diese Behauptung nicht ganz richtig ist. Ein Bewohner des Flüchtlingsheims, in dem Ali B. gelebt hat, stellt die Dinge ganz anders dar, minderjährige Mädchen seien bei Ali B. und seinen fünf Brüdern ein- und ausgegangen, die Brüder haben Geld mit Dealen gemacht, sie seien nicht „ganz normal“ gewesen, lachend tippt der Ex-Mitbewohner sich an die Stirn.
Nun könnte man sagen, was machen Minderjährige auch in einem Flüchtlingsheim und können die Eltern da nicht besser aufpassen etc.pp, aber grundsätzlich bin ich der Meinung, dass für eine kriminelle Tat der Täter verantwortlich ist und nicht das Opfer.
Nachdem der AfD-ler wieder auf seinem Platz sitzt und die Tagesordnung weitergeht, sagen die Redner*innen aller übrigen Parteien, die AfD solle sich was schämen.
Ich habe nichts dagegen, dass die AfD sich schämt. Aber muss sich die Bundesregierung nicht auch ein bisschen schämen? Immerhin ist ein Mensch gestorben, dessen Tod angesichts der Hintergründe noch viel sinnloser erscheint, als jeder Mord es ohnehin ist. Dass der Täter, als die Lage brenzlig für ihn wird, samt Familie einfach so ausreisen kann in das Land, aus dem sie nicht grundlos geflohen sind, mit Flugtickets unter falschen Namen, ist kaum vermittelbar, ich jedenfalls verstehe es nicht.
Den „Fall Amri“ hatten wir doch schon. Reicht der nicht? Das „Das-darf-nie-wieder-passieren“ der Behördenexperten einschließlich dem BKA ist es jetzt, was ich mehr als zum Schämen finde. Sollte Susanna F. etwa für diese Erkenntnis gestorben sein?