Vom Schreiben und Essen

Montag, B.N. Im Alter von zwei Jahren verbrachte ich ein Vierteljahr im Kinderkrankenhaus Hamm. Wenn ich nicht ins Krankenhaus gekommen wäre, wäre ich verhungert. Ich hatte eine frühkindliche Anorexie. Das heißt, ich hatte zu Essen aufgehört. Ich wollte nichts mehr essen. Ich wollte kein Essen mehr annehmen unter den gegebenen Umständen. Ich wollte aussteigen aus diesem Leben, wie es sich mir darbot.

Als ich eingeliefert wurde, trösteten die Ärzte meine Eltern: Sie hätten ja noch zwei andere Kinder. Ich war abgemagert und blau im Gesicht. Das weiß ich von meinen Eltern, die es mir viel später erzählt haben. Das Erbrochene, das verweigerte Essen, wurde mir wieder eingelöffelt. Das waren die hilflosen Versuche, aus dem unnormalen Essverhalten eines Kindes ein normales Essverhalten zu zaubern.

Auf den Fotos aus der Zeit habe ich ein spitzes Kinn und viel zu große Augen. Meine Schwester hatte zur selben Zeit Haarausfall. Auf einem sitzen wir beide in der Badewanne, ein schreckliches Bild.

Aus der Zeit in der Klinik habe ich, ungeachtet des sehr jungen Alters, sehr präzise Erinnerungen behalten. Jeden Tag kam mein Vater vorbei. Bei seiner Ankunft und beim Abschied stellte er sich vor die Glasscheibe, die das Krankenzimmer vom Gang trennte, und machte Faxen. Das Besuchen der Eltern war damals in Kliniken oder in dieser Klinik verboten. Mein Vater setzte sich in der ihm eigenen Art über das Verbot hinweg. Ich war sehr stolz auf ihn. Ich lag mit zwei anderen Mädchen in einem Zimmer, die von niemandem besucht wurden. Nur mein Vater traute sich was. Wir sahen ihm durch die Glasscheibe zu und lachten.

Jedesmal brachte er uns Bilderbücher, Malbücher und Buntstifte mit. Immer brachte er für alle Kinder im Zimmer Geschenke mit. Auch darauf war ich sehr stolz. Mein Vater war großzügig und ein Mann mit Empathie. Er erzählte uns lustige Geschichten und malte lustige Bilder, über die wir begeistert lachten. Wir lagen in unseren Eisengitterbettchen und warteten auf den Moment, an dem mein Vater wieder herein kam. Das war der Höhepunkt unserer langen Tage.

Mein Vater konnte lustig sein. Er war auch ein charmanter Gastgeber, ein guter Redner und Erzähler. Eigentlich war er traurig. Er hatte eine traurige Grundstruktur. Aber er hatte den Mut, lustig zu sein. Genauso habe ich es später in einem ganz bestimmten Moment empfunden: Mein Vater hat den Mut lustig zu sein. Obwohl er tief im Inneren traurig ist.

Zweimal habe ich meinen Vater weinen sehen. Als die Nachricht vom Tod seines Vaters kam, am Telefon; sein Vater war an Magenkrebs gestorben und nur aufgeschnitten und sofort wieder zugenäht worden, weil alles schon ganz verkrebst war, erzählte uns unsere Mutter. Das zweite Mal war viel später, schon im neuen Haus, da legte er auf meinen Wunsch eine Single auf, Ich hatt’ einen Kameraden, mein Vater saß ganz still während des Liedes, und mir entging nicht, dass nur ihm dieses Lied etwas sagte, mit seinen Kriegserfahrungen als ganz junger Mann die Verantwortung für das Leben so vieler anderer Männer zu übernehmen. Da war eine unüberwindliche Grenze zwischen mir und ihm. Und dann sagte er, von seiner Klasse haben nur zwei Jungs überlebt, er und noch ein anderer. Ich sah aus dem Fenster und sah nicht zu ihm hinüber, weil ich wusste, dass er weinte, obwohl nichts zu hören war. Mein Vater war der diskreteste Mensch der Welt. (Selbst beim Sterben war er diskret.)

Sonntags klebten wir manchmal Fotos mit ihm ein. Unter der strengen Regie meines Vaters sortierten wir doppelte Fotos aus und ordneten die übriggebliebenen Bilder so an, dass eine kleine Geschichte entstand: Ein Spannungsbogen, der unterbrochen wurde von handschriftlichen Einträgen und anderen Erinnerungsstücken wie Eintrittskarten, Restaurantrechnungen, getrockneten Blumen und ähnlichem. Die kamen auf die transparenten Zwischenseiten. Wir lernten auch, wie man überschüssiges Uhu mit dem Finger wegrubbelt, wie lange man sich nach dem Kleben auf das Album setzt, damit die Fotos aufs Papier gepresst werden, und wie man unbeabsichtigte Lücken füllt oder andere Fehler kreativ korrigiert, dass sie manchmal sogar zu einem besseren Ergebnis führen als der ursprüngliche Plan.

Einmal gab mein Vater mir ein altes Kinderfoto, das ich in mein erstes, von meiner Mutter geführtes Fotoalbum einfügen sollte. Es war ein Bild von mir in einem Eisengitterbett, wie es sie nur in Krankenhäusern gab.

Das bist du in Hamm, sagte er. Ich war sehr überrascht, das Bild hatte ich noch nie gesehen. Sofort fielen mir aber wieder Szenen aus dieser Zeit ein. Besonders eine. Da wurde ich entlassen. Auf diesen Tag hatte ich hingewartet. Mein Vater hatte mir erzählt, wenn ich entlassen werde, würde er Schwester Luise verhauen. Schwester Luise war grässlich, wir Kinder mochten sie nicht und hatten Angst vor ihr. In allen Einzelheiten malte ich mir von da an aus, wie mein Vater es anstellen würde, sie für ihre Schandtaten zu bestrafen. Ich erzählte auch den anderen Kindern davon: Mein toller Papa würde Schwester Luise vertrimmen. Als er mich am besagten Tag abholte, meine Sachen zusammengeräumt hatte und wir zu zweit zum Auto liefen, frage ich ihn, auf dem Weg zum Auto, wann es denn nun soweit wäre. Mein Vater verstand nicht, und als er endlich doch verstand, lachte er herzlich, und ich begriff, dass er mich – wenn auch in guter Absicht – verarscht hatte.

Schreib zu dem Foto, Ein Vierteljahr in der Kinderklinik Hamm. Wegen Essstörungen, sagte mein Vater. Ich hörte zum ersten Mal das Wort: Essstörungen. Wie sie denn behandelt worden seien, diese Essstörungen, fragte ich ihn dieses eine einzige Mal, als ich das Foto mit so vielen Jahren Verspätung selbst einklebte und untertitelte. Mit Bananen, sagte mein Vater. Du hast ein Vierteljahr nichts als Bananen gekriegt.

Ich sei danach nicht mehr sauber gewesen, sagte meine Mutter: Vorher warst du schon sauber. Da haben die in der Klinik aber versagt.

Jetzt geht das mit dem Essen wieder los!, soll ich, wieder zu Hause, gejammert haben. Darüber jammert meine Mutter noch heute, dass ich gejammert habe, dass jetzt das Essen wieder losgeht. So ist das.

So ist eine Erfahrung, die dir beibringt allein zu sein. Du wirst rausgekippt und bist allein. Dein Geist und dein Körper speichern diese Erfahrung in irreversibler Weise in ihrem Gedächtnis. Das Verlassensein ist der Normalzustand.

Mit dem Schreiben trittst du in Dialog. Zunächst ohne es zu wissen, es ist ein Reflex –