Zugbekanntschaft

Samstag, B.N. Gerade mal ein Abteilplatz ist frei in dem vollbesetzten Zug. Vor mit ein Mann meiner Altersklasse mit Kabel im Ohr, stellt sich schlafend oder schläft, neben ihm eine ältere Lady, deren Style mich gleich interessiert – konsequentes Schwarz-Weiß bis hin zum Schmuck -, neben mir ein Mädchen mit Kabel im Ohr, stellt sich schlafend oder schläft, und neben der, am Fensterplatz, ein dicker Junge mit Kabel im Ohr und Nintendo auf dem Schoß, spielt lautlos Games, sein Gesicht wie schockgefroren, unbeweglich und unbewegt.
Ich ziehe mein Buch raus, als nach ca. zwei Stunden der Schaffner kommt. Drei Personen?, fragt er den Typen mir gegenüber. Der nickt, tritt zum zwanzigsten Mal gegen mein Schienbein, klappt die Augen wieder zu.
Welche drei bloß? Die Lady seine Mutter und das Mädchen sein Kind? Das Mädchen und der Junge seine Kinder? Und was ist dann mit der Lady? Keiner hat bisher ein Wort gesagt. Zombies. Verkabelte Untote. Menschmaschinen.
Da nickt der Mann wieder, eine Hundertstelsekunde, und sie stehen auf. Wortlos. Keiner hat also geschlafen. Der Mann und das Mädchen und der Junge.
Letzterer greift sich plötzlich mit einer schnellen Bewegung, die ich bei ihm nicht vermutet hätte, meine Laptoptasche, worauf die alte Lady sehr entschieden sagt: Das gehört der Dame!
Worte, die im Raum stehen.
Und verpuffen.
No reaction. Tür auf. Alle drei raus. Tür zu.
Im Gang sagt der Mann: Bei meiner Mutter gibt’s nie was zu essen. Wir gehen noch zu McDo.
Was war das denn?, sagt die Lady, nachdem die Tür zugefallen ist. Wir lachen, aber irgendwie unfroh.
Die haben jetzt sieben Stunden nichts gesagt. Und sich nicht bewegt. Sagt die Lady, die schon seit Mittag mit der Zombiefamilie das Abteil geteilt hat.
Der hat anfangs nur gegessen. Gekaut und gekaut und niemandem was angeboten, sagt die Lady, deren Weltbild gerade Risse bekommt.
Es dauert zwei Stunden, bis ich aussteige. Bis dahin habe ich ihre Lebensgeschichte gehört und sie die Basics von meiner. Immer wieder fragt sie nach. Sie will es genau wissen. Sie macht seit dreißig Jahren Joga. Das Alter ist schön, sagt sie einmal so nebenbei.
Wenn ich an der Haltestelle stehe, atme ich. In die Schmerzen hinein, sagt sie.
Und davon gehen sie weg?, frage ich.
Manchmal ja, manchmal nein. Sie schaut aus dem Fenster, ins Schwarze.
Ich habe mich gestern wirklich furchtbar über meinen Schwager aufgeregt. Da habe ich auch geatmet, sagt sie.
Als ich meinen Mantel anziehe, bittet sie mich um meine Adresse und sie bittet mich, ihre aufzuschreiben. Sie sehe nämlich fast nichts mehr, Makuladegeneration. (Wie meine Mutter.)
Wenn Sie mich in Düsseldorf besuchen, erzähle ich Ihnen alles über Joga, sagt sie.
Ihre Hände sind warm und trocken. Zugbekanntschaft. Wenn ich Zeit hätte, würde ich sie besuchen. Eine Frau, die dir zeigt, wo es langgehen könnte …