Samstag, Tübingen. Wie kann es sein, dass Grüne zu den Waffen rufen, während die AfD als Friedenspartei zu punkten versucht? Wieso muss sich heute als rechts beschimpfen lassen, wer für pazifistische Positionen eintritt?
Die klugen Gedanken von Oliver Schlaudt und Daniel Burnfin in: Die Geburt der woken Falken (der Freitag vom 9. Januar 2025) habe ich um meine eigenen Gedanken ergänzt.
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Keine Frage, dass ich mich schon als Jugendliche links verortet habe: Mein Herz schlug links (Empathie) und wir, also ich und mein Freundeskreis, handelten links (gezielter Aktionismus). Wie teilten (fast) alles: untereinander, in der WG. Und mit der Arbeiterklasse (theoretisch jedenfalls).
Heute ist das nicht mehr so. Linke konstatieren kühl die Ungleichheit, ohne sich gegen sie aufzulehnen. Eher scheint sie als gegeben hingenommen zu werden. Statt unterprivilegierte Mitbürger*innen am Kuchen teilhaben zu lassen, führt man AntiDiskriminierungsDebatten über korrektes Gendern und korrektes Essen.
Ist schon okay, aber welche Frau, die ins Frauenhaus flüchtet, weil ihr Mann sie halbtot schlägt, und welcher Langzeitarbeitslose, dessen Geldbeutel um die Montagsmitte gähnend leer ist, hat was davon? Während die Solidarität mit dem Proletariat / den Unterprivilegierten für uns eine nicht hinterfragbare Sache war (und bis heute ist), bekämpft die sog. Neue Linke Diskriminierungen jeglicher Art, ohne dass irgendeine Konsequenz für sie daraus entsteht.
Sozialer Stand wird nicht mehr als Position im ökonomischen System verstanden, sondern nur als ein weiteres, möglicherweise zu Diskriminierung führendes Identitätsmerkmal unter vielen anderen. Damit verwässert sich aber die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Konkret: Ein schlecht bezahlter Job ist in Ordnung, solange er nicht wg. Rassismus oder sexueller Diskriminierung schlecht bezahlt ist.
Armut und Ungleichheit, sogar Gewalt scheinen sich bestens mit Antidiskriminierungsforderungen zu vertragen. Während früher noch zwischen Hauptwiderspruch (Kapitalismus) und Nebenwiderspruch (Patriarchat) unterschieden wurde, geht es heute um das ganze Konglomerat von Diversity- und Diskriminierungsthemen, die sich gegenseitig im Weg stehen oder sogar aufheben. Der Kapitalismus jedoch, der Hauptwiderspruch, darf bestehen bleiben – weil hier schlichtweg der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen wird?
Damit ist der „linke“ Neoliberalismus geboren, was sich sowohl in der innen- als auch der außenpolitischen Realität zeigt: Anythink goes! Unwidersprochen verkündet Habeck: Kapitalismus und Klimaschutz sind kein Widerspruch! Die Grünenpolitikerin Claudia Roth trägt im Iran Kopftuch nach islamischem Gebot, ohne zu erkennen, dass sie damit den um Emanzipation ringenden iranischen Frauen ins Gesicht schlägt. LGBTQ hält Einzug ins Militär, indem sich Transpersonen ihren Platz in der Armee erstritten haben, ohne deren weltpolitische Rolle zu hinterfragen. Schon seit den Nullerjahren zeigt sich das Militär gegenüber sexueller Antidiskriminierung aufgeschlossen – eine Win-win-Situation, die beiden Seiten der Stabilisierung dient.
„Was nicht passt, wird passend gemacht“ – die alte Baumarkt-Regel scheint eine ganz neue Anwendung auf politischer Ebene zu finden. Peng! Solange ich die Widersprüche nicht erkenne, muss ich auch nicht handeln.
Diversity- und Diskriminierungsthemen statt Grundsatzkritik an Ökonomie und Aufrüstung: Die sog. Neue Linke scheint damit jedenfalls kein Problem zu haben. Wenn sich aber der Klassenkampf erledigt hat, dann hat sich rechts und links auch erledigt. Links kann nicht sein, wer das bestehende System stabilisiert. Die sog. Neue Linke entstammt vorwiegend der wohlhabenden, akademisch gebildeten Mittelschicht. Sie essen vegan und teuer, sie leben in gentrifizierten Vierteln, sie teilen Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit, die ihnen nichts weiter abverlangen. Politik ersetzen sie kurzerhand durch Moral, oder besser: durch eine moralische Attitüde. Sie sind der diskursbestimmende Teil der Gesellschaft, aus dem sich die Grünen und die übriggebliebenen SPD-WählerInnen rekrutieren. Trotz ihrer privilegierten Position sehen sie sich als HeldInnen des guten Gewissens der Weltgeschichte. Sie kommen sich progressiv vor, ohne die eigenen materiellen Privilegien infrage zu stellen. Selbstgerecht grenzen sie sich von der Rückständigkeit der unteren sozialen Schicht ab, die noch an überkommenen Normen und Geschlechterstereotypen hängen mag.
Die Selbstgerechten tun das vermeintlich Gute von oben. Das Neue, Revolutionäre hat aber unbedingt von unten zu kommen. Sonst befördert es nichts als eine doktrinäre, reaktionäre Agenda.
Viele meiner Generation sind unter dieser rot-grünen Agenda politisch heimatlos geworden. Das ist ein wirklich schmerzlicher Verlust! Die Verve, mit der sich die sog. Neue Linke, ohne mit der Wimper zu zucken, den konservativen Kräften, also der herrschenden Klasse, anschließt und in ihr Kriegsgeschrei nicht nur einstimmt, sondern es sogar noch übertönt, erschreckt mich maßlos. Ich bin mit den Erzählungen über Krieg, Vertreibung, Judenverfolgung aufgewachsen. Gewalt kam von oben, nicht von unten. Stahlhelme, Stiefel, Gewehrkolben. Die Gewalt war rechts, rechtsnational, nationalsozialistisch. Wer gegen Gewalt war, hat dafür oft leiden müssen, das waren die Guten, die Linken.
Ich lasse mich nicht umlabeln, zu deutlich höre ich den Missklang falscher Narrative.
Kürzlich saßen wir mit Freunden beim Essen zusammen. Der Sohn einer Freundin, Grün-Wähler, saß mir gegenüber und erzählte von seiner hellen, großen Wohnung am Prenzlauer Berg, vom Privatkindergarten für seine Tochter, vom SUV und dem Zweitwagen für die Frau, vom Auslandsjob „in den Staaten“. Plötzlich hielt er inne und sagte: „Im Herzen bin ich Marxist.“
Mein Gelächter war spontan und echt. Selten so was Lustiges gehört.