Leeres Enzephalon

Donnerstag. Direkt der erste Satz von grandioser Fehlerhaftigkeit.

Die wenigsten von denen, die demnächst die Reifebescheinigung in der Tasche haben, schaffen auch nur einen einzigen fehlerfreien Satz. Orthographie, Syntax, Wortschatz, da geht gar nichts. Es sind die Digital Natives, die in der Sache dauerhaft benachteiligt sind, Sprache lässt sich nur schwer nachsozialisieren, das Leben ist eben kein Ponyhof. Vielleicht aber doch. Vielleicht mache ich mir was vor. Wie wichtig sind die Primärkompetenzen Sprechen und Schreiben noch?, darüber gehen auch die Meinungen im Kollegium auseinander.

Ersetzt digitales Knowhow nicht längst die Abrufbarkeit von Wissen?, fragt Herr Klaaßen verwundert. Was heißt einbalsamieren? Was sind Narzissten? Oder Narzissen? Wer war Chagall? Von Chagall zeige ich ihnen Bilder und denke im gleichen Moment daran, dass sie Rembrandt, Monet, Georgia O’Keeffe auch nicht kennen. Von Picasso wissen sie, dass der irgendwie berühmt war, Kunst interessiert sie nicht. Wie wichtig ist Kunst? Ihre flinken Daumen googeln, was sie gerade brauchen, die Praxis gibt ihnen Recht. Das Korrekturprogramm auch meistens. Vielleicht ist es an mir, das alte Wissen einfach loszulassen, bye bye, my love, goodbye. Vielleicht ist Bildung kein gesellschaftlich relevanter Wert mehr, seit sie an das weltweite Netz outgesourct wurde. Herr Klaaßen jedenfalls kommt bestens ohne durch, er ist der nächste A-15-Kandidat, er hat den Arbeitskreis Medien und Digitalisierung ins Leben gerufen. In naher Zukunft quatscht man ins VR-Headset, was man braucht, niemand muss mehr irgendwas schreiben. Das Bewusstsein vom Verlust des Wissens – sofern vorhanden – wird abgefedert durch das Bewusstsein von der Erleichterung des Gehirns. Vielleicht können sogar Erinnerungen und Emotionen bald outgesourct werden. Leer sein wird dann das Enzephalon, freigeräumt und unbelastet sämtliche Kapazitäten der Großhirnrinde für die vielleicht allerletzte menschliche Erfindung: eine technikbasierte Welt, in der die biobasierte Existenz in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

86 Fehler auf zwei Seiten – welche Note ist das, verdammt? Inhaltlich unterirdisch, aber das Gelernte noch vage erkennbar, sprachlich unterirdisch, aber das Gemeinte noch vage verstehbar, orthographisch unterirdisch, aber die Wörter noch vage entschlüsselbar – dass ihnen zwei Pandemiejahre fehlen, auch um erwachsen zu werden, ist ein Umstand, für den sie nichts können.

Drei Punkte wäre realistisch, fünf wohlwollend. Sieben Punkte, schreibe ich schnell und setze schwungvoll mein Kürzel darunter …