Pisa und kein Ende

Dass deutsche Schüler*innen im internationalen Vergleich der PISA-Studie so miserabel abgeschnitten haben wie nie, würde die unwissende, aber interessierte Bürgerin vielleicht wundern, wenn sie nicht selbst im dt. Bildungssystem beschäftigt wäre.
6116 15-Jährige nahmen an der Studie 2022 teil, um vor allem ihre Mathe- und Lese-Verständnis-Kompetenz unter Beweis zu stellen. Insgesamt waren es fast 700.000 Jugendliche aus 81 Ländern.
Die Bildungsminister*innen sind nun wieder schockiert und sehen Handlungsbedarf. Den gab es auch schon nach der letzten PISA-Studie 2018. Passiert ist nichts.
Die Presse wird bei dem Thema mittlerweile konkreter. Nicht nur zwei lange Lockdowns haben für immense Wissenslücken gesorgt, sondern vor allem der hohe Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund, der ein Unterrichten nach normalen Standards oft verunmöglicht.
Unter normal verstehe ich: Das für die jeweiligen Klassenstufen vorgesehene Lehrwerk kann im Unterricht eingesetzt werden, und die von den Bundesländern festgelegten Kompetenzen lassen sich wenigstens teilweise erfüllen.
Beides ist aber leider absolut nicht der Fall. So verwende ich derzeit in Klasse 9 Materialien aus Klassestufe 6. Und von den stufenspezifischen Kompetenzen sind wir meilenweit entfernt.
Hinzu kommt, dass die musischen Fächer nur noch rudimentär oder gar nicht unterrichtet werden. Ihr Wert für die Entwicklung ganzheitlichen Wissens wird katastrophal unterschätzt! Hier kann man gar nicht mehr von Wissenslücken reden, sondern von absolutem Nichtwissen.
Wenn die zum Thema PISA befragte Ulrike Herrmann gestern Abend bei Markus Lanz sagt, sie sei keine Lehrerin, habe aber einen befreundeten Lehrer gefragt, und der habe ihr gesagt …, dann ärgert mich das. Jede Lehrerin, jeder Lehrer könnte hier sehr konkret und vor allem mit Fachkompetenz Auskunft geben.
Aktuell unterrichte ich ca. 50 15-Jährige in zwei Hauptschulklassen. Die Studie bewahrheitet sich jeden Tag in jedem Fach, nicht nur in Deutsch und Mathe. Wenn ich das Deutschbuch einsetze und in der 9. Klasse den Konjunktiv behandeln soll, dann verstehen mich schon die deutschsprachigen Schüler kaum. Was aber ist  mit den ca 60 % Jugendlichen, die sich gerade mal so verständigen können? (Was ja eine Leistung ist angesichts der Tatsache, dass ihre Eltern oft gar kein Deutsch sprechen.) Was soll ich denen mit Konjunktiv oder direkter und indirekter Rede kommen?
Dank guter Beratung durch eine engagierte Kollegin setze ich jetzt Lehrwerke für ‘Deutsch als Fremdsprache’ in meinem ganz normalen Deutschunterricht ein. Das heißt, ich habe sie mir gekauft und verleihe sie. An den Schulen liegen derartige Unterrichtshilfen oft nicht vor. Meine Kids mit Migrationshintergrund – aus Syrien, aus der Ukraine, aus Georgien, aus Ghana … – können damit ihre Deutschkenntnisse aufbessern. Mit dem eigentlichen Unterrichtsstoff hat das aber nichts zu tun. Das ist mir klar. Wie ich dafür Noten gebe, liegt in meinem eigenen Ermessen.
Würde ich nicht auf die Weise binnendifferenziert arbeiten, wäre mein Unterrichtstempo dermaßen verlangsamt, dass es an Absurdität grenzte. Bleibt das Problem mit der Leistungsmessung, was jedoch angesichts der Gesamtproblematik eher sekundär ist.
Was das deutsche Schulsystem seit vielen Jahren den Jugendlichen antut, empfinde ich als verantwortungslos. Als massiv ungerecht. Irgendwann werden sie uns das mal sehr, sehr übel nehmen! Sie haben schlichtweg kein Recht auf Lernen. Denn sie lernen zu wenig. Sie lernen viel weniger, als sie von ihrem eigenen Potential her könnten. Stunde um Stunde werden sie ausgebremst statt intellektuell angeregt. Es geht zu langsam. Viel zu langsam. Es verbrennt sinnlose Lebenszeit, das ist das Schlimmste daran.

Ein Beispiel: Ein – deutschsprachiger – 15-Jähriger schreibt in einem Test über Textarten:

wo ein text die infomation rein sind (gemeint ist der Sachtext).
hat versen uns stoppen und zeilen. (gemeint ist das Gedicht)
saintsfixschen, fantesi (gemeint sind die Roman-Formate Science Fiction und Fantasy)

Eigentlich müsste ich mich nach dem Unterricht mit dem Jungen zusammensetzen und Wort für Wort sein kryptisches Geschreibsel durchgehen, Fehler erklären und alles neu schreiben lassen. So habe ich es an meinem vorherigen ‘Amt’ manchmal gemacht, mit besten Lernerfolgen. Aktuell müsste ich das mit zwei Drittel aller SuS machen. Was leider nicht zu leisten ist. Und so bleibt es an den Jugendlichen hängen, die Untätigkeit der Bildungsminister*innen auszubaden.
Als Lehrerin bin ich frustriert und unzufrieden: Ich kann nicht machen, was gemacht werden müsste. Keine gute Erfahrung. Die Jugendlichen merken noch nicht, was ihnen da angetan bzw. verweigert wird. Noch freuen sie sich, dass es so gechillt zugeht, nur die Allerwenigsten kümmern sich eigenständig um Lösungen.
Gewisse Bildungswissenschaftler setzen seit ein paar Tagen dazu an, die Aussagekraft der PISA-Studie anzuzweifeln.
So kann man ein Problem auch zerfaseln …