Samstag. Eine Gesellschaftsanalyse, die mir die Augen öffnet: Andreas Petersen spricht in seinem Buch Der Osten und das Unbewusste aus, was bisher nur diffus meine Wahrnehmung tangiert hat.
Das gesamte westliche Denken, Kunst und Kultur und damit auch die Sprache, sind durchdrungen von Freuds Theorie über die Psyche, über das Unbewusste, das Individuum mit seinen Trieben und Wünschen und Begehrlichkeiten und nicht zuletzt über die Tatsache, dass der Mensch “nicht Herr im eigenen Haus” ist.
Damit haben wir uns – im Interesse der individuellen und der gesellschaftlichen Heilung – intensiv auseinandergesetzt. Und uns daran abgearbeitet – alleine mit sehr viel Literatur (und vielen, vielen Randbemerkungen) oder in verschiedenen Gruppen in manchmal endlosen Psychodebatten.
Doch Freud, C.G. Jung, Fromm, überhaupt die Frankfurter Schule, das Ehepaar Mitscherlich u.v.a. waren bis in die späten 80 Jahre in der DDR nicht nur nicht erhältlich, sondern wurden explizit diffamiert und blieben aus dem universitären Raum verbannt.
Das Ich, das sich gemäß seines ganzheitlichen Potenzials bildet und ausbildet, ist das Ideal des Westens. Das Ich, das im Kollektiv aufgeht, war 40 Jahre lang das Ideal des Ostens. Unser Denken über Individuum und Gesellschaft einschließlich des Wordings ist dadurch ein anderes – ich erlebe es jeden Tag im Schulbetrieb.
Konkret: Wenn ein sehr übergewichtiges Mädchen seit Jahren Mobbing erfährt und darunter extrem – und von ihrer Seite auch verbal überzeugend kommuniziert – leidet, wird ihr auf den Kopf zugesagt, sie solle sich “mal zusammenreißen”. Obenauf bekommt sie eine 6 in Sport, weil sie sich “nicht anstrengt”.
Auch auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse ist, auf die Praxis bezogen, eine 6 in meinen Augen keine Note, sondern eine Kapitulation. Meine Nachfrage, was eine solche Behandlung mit der Psyche einer / eines Jugendlichen mache, wird mit langem Blick beantwortet. Psyche? Nicht mal die sehr jungen Kolleg*innen oder gar Referendar*innen können mit meiner Frage etwas anfangen.
Leider ist das o.g. Schicksal überhaupt kein Einzelfall.
Einigung, was das betrifft, nicht möglich.