Freitag. Am vergangenen Wochenende sind in Berlin rund 250.000 Menschen im Namen eines „Aufstands der Anständigen“ – übrigens ein Slogan des vielgeschmähten Gerhard Schröder – auf die Straße gegangen.
Warum?, das fragt sich die interessierte, aber unwissende Bürgerin. Würde ich mich auf den Weg nach Berlin machen, um meinen Mitbürger*innen zu demonstrieren, dass ich anständig bin? Eher nicht. Bei mir klingeln eher die Alarmglocken, wenn sich eine oder einer selbst als anständig tituliert.
Und wer ist dann bitte nicht anständig? Unanständig? Ich empfinde sehr viele Politiker*innen und sehr viele Medienvertreter*innen als unanständig im Umgang mit anderen Menschen. So unanständig, dass sehr anständige Politiker wie Gerhard Schröder oder Kevin Kühnert an Leib und Seele fertiggemacht werden, bis ihnen nur noch der Weg in die Krankheit bleibt. So unanständig, dass die Staatsanwältin Anne Brorhilker ihren Lebensjob an den Nagel gehängt hat, weil sie im Kampf gegen staatliche (!) Finanzkriminalität feststellen musste: Mit juristischen Mitteln lässt er sich nicht gewinnen. Also, im anständigen Deutschland!
Trotzdem unterstelle ich Politiker*innen aller Parteien (Aufschrei), dass sie ihr Amt nicht aus reiner Geldgier oder Eitelkeit ausüben, sondern weil sie die Welt ein Stückchen besser machen wollen. So toll ist der Politikerjob wohl nämlich nicht. Ich unterstelle ihnen Ernsthaftigkeit. Das wäre für mich ein Synonym für Anstand. Anständig ist für mich auch der Dialog mit Andersdenkenden, egal welcher Partei (Aufschrei). Unanständig ist für mich Canceln, Ausgrenzen. Ganz abgesehen davon, dass unsere Medien und Politiker*innen damit nur die Ausgegrenzten stark machen (weil die meisten Menschen Empathie besitzen), aber schon diese Überlegung ist unanständig, weil wahltaktisch.
Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass 250.000 Berlinerinnen und Berliner anständige Leute sind.
Ganz ehrlich, seit ich berufsmäßig mit jungen Menschen zu tun habe, die sehr weit unten auf der sozialen Leiter stehen, habe ich mit sehr anständigen Menschen zu tun. So anständig, dass mir manchmal fast die Tränen kommen. Ich frage sie lieber nicht, welche Partei sie gut finden. Es reicht mir zu sehen, wie sie sich gegenseitig helfen und wie betroffen sie reagieren, wenn es einem von ihnen schlecht geht. Sie sind nicht nach Berlin gefahren, schon deshalb, weil sie dafür gar kein Geld haben. Sie sind ernsthaft. Und das gefällt mir.