Sonntag, B.N. Eine EU-Bestimmung besagt, dass man Lippenstifte in den Kosmetikabteilungen jetzt nicht mehr direkt ausprobieren darf. Statt dessen wird die Farbe mit einem Einweg-Spatel auftragen und dann mit dem Pinsel (oder Finger) verteilt.
Das ist der Kleinscheiß, mit dem sich Politiker beschäftigen, und der ist sehr weit von dem entfernt, was mich beschäftigt.
Wie mag es erst den Arbeitslosen, den Geringverdienern, den maximal ausgebeuteten Dauerpraktikant*innen, den Ausgetricksten und in die Scheinselbstständigkeit Gezwungenen, den von Vermittlungsagenturen abhängigen Tage- oder Wochenlöhnern damit gehen?
Unsere tolle Demokratie ist eben nicht mehr für alle Bürger*innen da. Manche, ziemlich viele, haben einfach Pech. Eine Wahlbeteiligung von maximal 60% zeigt das anschaulich, aber diese 60% scheinen zu genügen. Mehr braucht unser Staat nicht von uns. Die restlichen 40% lassen sich mitziehen, und die, die den Anschluss sowieso komplett verloren haben, vertreiben sich mit anderen Dingen die Zeit. Solange der Tisch voll ist – Fressen, Saufen, PC-Games -, stört sie das offenbar auch wenig.
Nur manchmal ist da so ein verdammt ungutes Gefühl angesichts einer Politikszene, die sich so unsexy ausnimmt, dass jeder Impuls, sich einzubringen, wie ein warm gewordener Windbeutel in sich zusammenfällt.
Motiviert, zuversichtlich erregt auf die Straße gehen – das war einmal. Es gibt keine Bewegung in dem Sinne mehr. Posten in den sozialen Medien ist auch keine Alternative. Global Players, die die Fäden einer weltweit vernetzten Wirtschaft und Politik in den Händen halten, geben uns zu verstehen, dass unser persönliches Engagement nichts weiter als ein lächerlicher Versuch ist.
Das macht mir Angst. Die Angst lässt mich ins Private verkriechen, oder in die Kunst. Bestimmt ist es kein Zufall, dass Musik und Literatur sich immer individualistischer, unpolitischer und beliebiger zeigen. Elterngeschichten, Demenzgeschichten, Dorf- und Familiengeschichten über mehrere Generationen liegen voll im Trend. Das larmoyante Sezieren ist ein Merkmal der „postmodernen“ Literatur – was immer das sein soll – gewürzt mit einer Prise Ironie oder ein wenig Zynismus. Mehr darf es gerade nicht sein: Kunstvoll, aber irrelevant.
So irrelevant wie der Lippenstift-Paragraph.