drückdich.com – Das Seidenraupenzimmer

Samstag. Was habe ich hier gelesen?
Wer es bis zu den letzten Seiten schafft, dürfte sich auch so fühlen wie ich mich gerade: absolut neben mir, verstört (ist mir zu abgegriffen, heute sind alle immerzu verstört), sprachlos.  Erstmal nichts sagen, Gedanken sammeln.

Also:
Fast heiter beginnt Seidenraupenzimmer von Sayaka Murata mit Natur, Gebirge, Serpentinen, Autofahrt mit der Familie zu den Großeltern. Steigende Vorfreude auf das Haus, auf das geheimnisvolle Seidenraupenzimmer und noch mehr auf Cousin Yu.
Die Protagonistin, Yuki, hat mit ihren zehn Jahren bereits gelernt, sich selbst zu helfen, zum Beispiel, wenn ihr bei den Kurven schlecht wird, im Gegensatz zu ihrer Schwester, die von der Mutter verhätschelt wird, während sie selbst eine  Art Aschenbrödeldasein fristet.
Die Fremdheit und Kaltherzigkeit ihrer sehr traditionell eingestellten Familie kriegt sie nur so auf die Reihe, indem sie sich eine neue Identität imaginiert: Sie ist ein Magic Girl, von einem fremden Stern, beauftragt, unseren Planeten zu beschützen.
Nur mit Yu teilt sie ihr Geheimnis, denn auch er ist ein Außerirdischer. Ein Missbrauch durch ihren Lehrer bringt Yukis Leben vollkommen durcheinander. Sie verliert ihren Geschmacks- und Geruchssinn, und dass sie eines Nachts ihren Lehrer auf sehr grausame Weise tötet, hat sie im selben Augenblick aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
Ihr Leben ist fortan davon beherrscht, kein Erdling zu werden. Sie hasst die Vorstellung, sich fortpflanzen, Sex haben zu müssen, Karriere zu machen, Familienbande zu respektieren. In Tomoobi findet sie einen Mann, der ähnlich drauf ist. Auf dem Partnerschaftsportal drückdich.com haben sie sich kennengelernt, und seither leben sie eine Ehe ohne sexuelle Aktivitäten und ohne Kinderwunsch. Ihre Partnerschaft gleicht eher einer Wohngemeinschaft, was den Angehörigen nicht verborgen bleibt.
Um dem ungeheuren gesellschaftlichen bzw. familiären Druck zu entkommen, fliehen Yuki und Tomoobi eines Tages in das inzwischen leer stehende Haus ihrer Großeltern. Dort trifft Yuki nach vielen Jahren wieder auf Yu. Die drei schließen sich zusammen, um sich als verschworene Gemeinschaft gegen die Erdlinge, gegen die Fabrik, wie sie die Gesellschaft draußen bezeichnen, zu widersetzen. Mit jedem Tag mehr vervollkommnet sich ihre Existenz als Außerirdische.
“Warum versuchen die Erdlinge sich nicht weiterzuentwickeln so wie wir?” fragt Yuki.
“Sie schaffen es nicht, den ganzen Ballast, den sie angehäuft haben, abzuwerfen. Obwohl es nur Daten sind”, antwortet Yu.
Da das Dorf, als Teil der Fabrik, nicht wissen darf, dass sie zu dritt in dem Haus leben, machen sie kein Licht, nutzen keine Heizung, klauen ihre Lebensmittel, um nicht in Läden gesehen zu werden. Das Abbrechen jeglicher Telefonverbindung ist nur konsequent. Sie sind nackt, um nicht waschen zu müssen, sie kochen, essen, schlafen. Sie sind glücklich und fühlen sich geborgen, auf die Weise wie Adam und Eva geborgen waren, bevor sie von der Frucht der Erkenntnis genascht haben.
Bis die Erdlinge eindringen, um sie zu holen. Das Finale ist unaussprechlich. Schon immer war es Tomoobis Wunsch, Grenzen des menschlichen Normenkanons zu überschreiten, etwas ganz und gar Verbotenes zu tun, um das Erdlingsdasein endgültig abzustreifen.
Nun, das gelingt den drei Außenseitern wahrlich – aber jetzt ist Schluss mit Spoilern …