Najem Wali: Ich und mein

Der deutsch-irakische Schriftsteller Najem Wali in: „Was wirklich zählt – 18 Mal Hoffnung in Krisenzeiten“, C. Juliane Vieregge, erscheint am 27.04.2025

„Nach 23 Jahren in Deutschland kam ich für 23 Tage zurück.
Für jedes Jahr einen Tag. Als ich nach all den Jahren zurückkam, war es ein Schock.
Eine Diktatur, drei Kriege sowie zwölf Jahre UN-Wirtschaftssanktionen hatten nicht nur die Infrastruktur des Landes völlig zerstört, sondern auch die Menschen verändert. Die für Basra typischen, weiten Dattelpalmenhaine waren ausgetrocknet, die Bewässerungskanäle versumpft und vermüllt, die Bevölkerung verarmt. Mit dem acht Jahre währenden iranisch-irakische Krieg, dem Krieg gegen Kuweit und der amerikanischen Invasion hatten sich Elend, Umweltvergiftung und Krankheiten ausgebreitet. In Bagdad sah ich die Häuser mit ihren kunstvollen Fassaden verfallen, die ganze Stadt war kaputt, und niemand hatte Geld, sie wiederaufzubauen. Ein Embargo trifft die einfachen Menschen und die Mittelschicht immer am härtesten. Die Herrschenden dagegen kommen durch, weil sie andere Wege, Schwarzhandel et cetera, finden.
Natürlich war das Glück des Wiedersehens groß, doch nach 23 Jahren war ich meiner Familie fremd geworden. Schon bald wurde ich zunehmend als Störfaktor wahrgenommen. Meine Familie hatte sich, wie alle anderen, den politischen Verhältnissen angepasst, sie befürchtete, durch mich in Schwierigkeiten zu geraten. Mein Bruder nahm mich nicht mehr mit auf den Markt, weil es mir als vergleichsweise wohlhabendem Besucher schäbig vorkam, um die Preise zu feilschen. Und mit meinen freien Umgangsformen provozierte ich wohl die Leute in der Nachbarschaft. Am zweiten, dritten Tagen entdeckte ich selbst, dass ich hier nicht mehr hinpasste, auch nicht in die Familie.
Individualität zählt im Irak seit jeher wenig, das ist auch eine Sache der Tradition. Ein Beispiel: Wenn die Familie mittags oder abends zusammen isst, dann essen sie alle aus einem Teller. Ich möchte aber, wie ich es in Deutschland gelernt habe, meinen eigenen Teller haben. Und schon bin ich für sie der Deutsche, während ich für die Deutschen der Iraker bin. Am zweiten Tag meines Besuches bin ich dann zur alten Tradition zurückgekehrt, die ich schon fast vergessen hatte. Ich musste mich anpassen, um mit ihnen zusammen die Mahlzeit einzu-nehmen.
Im Irak sagt kein Kind ‚meins‘.
Das Possessivpronomen existiert in irakischen Familien nicht. Deshalb habe ich bis heute Schwierigkeiten mit dem Wort meins. Ich sage lieber der Teller als mein Teller. Deutsche Kinder dagegen lernen in ihren Familien als Erstes zwischen mein und dein zu unterscheiden. Schon im Kindergarten sagen sie meine Zahnbürste, mein Handtuch. Was in Deutschland selbstverständlich ist, hat für mich zu erheblichen Missverständnissen geführt, auch in Beziehungen. Ich habe meinen deutschen Freundinnen und Freunden oft vorgeworfen, Egoisten zu sein.
Im Irak gilt einer, der seinen eigenen Teller haben will, als verdächtig. Mit dem stimmt was nicht. Auch wenn ein Kind alleine spielt, in ein anderes Zimmer geht – vorausgesetzt, es gibt überhaupt ein anderes Zimmer –, wenn es lieber allein ist als mit anderen Kindern zusammen, dann heißt es in der Familie: Mit seiner Psyche ist etwas nicht in Ordnung.
Meine erste Kurzgeschichte habe ich mit 16 geschrieben. Da saß meine Mutter mit zwei Nachbarinnen im Zimmer, und ich hockte in einer Ecke. Ich wollte damals immer einen Schreibtisch haben, aber das kam nicht infrage. Die Frauen waren sich sowieso einig: Der Najem spinnt, der ist ein Verrückter! Nachher, als ich von Deutschland aus die Familie unterstützt habe, da wussten sie, dass ich nicht verrückt war, sondern der einzige Schlaue in einer Familie, die während des Embargos alles, was sie je verdient und besessen hatte, verlor.
Mein erstes eigenes Zimmer bekam ich, als ich schon in Bagdad Student war. …“