Özdemirs Tochter

Wenn Cem Özdemir in der FAZ eine härtere Asylpolitik fordert, weil seine Tochter und ihre Freundinnen „von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden“ – welches weibliche Wesen noch nicht? – dann werden die meisten sich wundern, wieso es eines persönlichen Familienerlebnisses bedarf, den Mind Change des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft vor der Öffentlichkeit zu legitimieren. Oder instrumentalisiert Özdemir seine Tochter schlichtweg, um dem abtrünnigen Wähler*innenvolk zu demonstrieren: auch die Grünen sind in Sachen Migration flexibel?

Mich nervt der FAZ-Artikel. Meines Erachtens steht Özdemirs schräge Argumentation in einer Reihe neben der ewig gleichen Litanei salbungsvollen Bedauerns und Empörens und den Krokodilstränen auf Abruf und einer (!) medial aufgeheizten Abschiebung von 28 Schwerkriminellen nach Afghanistan. Hohle Inszenierungen unter Faeser-Regie, Achtung!, lösen allergische Reaktionen aus. Ich wende mich ab wie im Frühjahr von Haselnüssen und Birken und versuche, mich anderen Themen zu widmen. So sieht leider inzwischen mein Verhältnis zur Politik aus: Möglichst wenig hören und sehen.

Aber der Vater der im Januar 2023 in der Bahn nach Brokstedt ermordeten 17-jährigen Anne-Marie schreibt Özdemir eine Antwort:

Sehr geehrter Herr Özdemir,

jeder Mensch ist das Produkt seines Umfelds. Die Erfahrungen der Jahre lehren uns, unsere Sichtweisen durch Ereignisse zu hinterfragen.

Es sieht aus, als hätten Sie, Herr Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, diese Erfahrung soeben gemacht. In einem Gastbeitrag für die FAZ fordern Sie plötzlich eine energische Wende in der Migrationspolitik. Offenbar ist an dem Satz „Mit dem Alter kommt die Weisheit!“ doch etwas dran.

Vor Kurzem wären solche Forderungen in Ihren Augen noch rechtsradikal und damit indiskutabel gewesen. Doch kaum trifft es Sie selbst, nachdem Ihre Tochter belästigt wurde, dreht sich Ihre Meinung um volle 180 Grad. Willkommen in der realen Welt der normalen Bürger, Herr Minister!

Was berechtigt mich, Ihnen solche Zeilen zu schreiben?

Mein Name ist Michael Kyrath. Ich bin der Vater der am 25. Januar 2023 in Brokstedt ermordeten 17-jährigen Ann-Marie. Neben meiner Tochter verstarb an diesem Tag auch ihr erst 19-jähriger Freund Danny, nachdem ein abgewiesener, mehrfach vorbestrafter, „staatenloser“ Palästinenser in einem Nahverkehrszug 38-mal auf die beiden eingestochen hatte.

Im Gegensatz zu Ihrer Tochter, lieber Herr Özdemir, kommt unsere Tochter nicht mehr nach Hause! Es hat sich auch keiner Ihrer Parteifreunde in unserem Fall derart exponiert, wie Sie es jetzt für Ihre Tochter tun. 

Im Gegenteil! Man hat uns wissen lassen, wir sollten darauf achten, dass der Mord an unserer Tochter nicht von Rechtsradikalen missbraucht wird! Von einem Ihrer Koalitionspartner bekamen wir die Nachricht, es tue ihm leid, dass „diese Leute“ ums Leben gekommen sind.

Diese „Leute“ waren unsere Kinder, Ann-Marie und Danny! Teenager von 17 und 19 Jahren, die auf dem Weg von der Schule nach Hause waren. Zwei junge Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. 

Können Sie es sich vorstellen, was so eine Tat mit den Hinterbliebenen macht? Mit uns als Eltern? Mit den Großeltern, Mitschülern, Lehrern, Freunden, Nachbarn?

Wir werden niemals den Schulabschluss unserer Kinder mitfeiern! Wir werden ihnen niemals zu einer bestandenen Berufsausbildung oder Studium gratulieren! Wir werden nicht an ihren Hochzeiten teilnehmen, und wir werden auch niemals eigene Enkelkinder willkommen heißen. Wir werden unsere Kinder nie wieder in den Arm nehmen dürfen und ihnen sagen, dass wir sie lieben!

Bei mir haben sich über 300 Elternpaare gemeldet, die in den letzten fünf Jahren ihre Kinder verloren haben.

Was uns alle eint, sind fünf Eckpunkte:

1. Immer das gleiche Täterprofil

2. Immer das gleiche Tatwerkzeug

3. Immer die gleichen Tatmotive

4. Immer der nahezu gleiche Tathergang und

5. immer die gleichen Floskeln der verantwortlichen Politiker nach einer solchen Tat!

Wir durften uns nach den Morden an unseren Kindern anhören, dass es „bedauerliche Einzelfälle“ wären und man ja nie hundertprozentige Sicherheit garantieren könne. Und dass man nicht verallgemeinern und damit den Rechtsradikalen in die Hände spielen darf. Und dass man versuchen werde, mit aller Härte gegen solche Täter vorzugehen. Mehr ist in den letzten Jahren nicht passiert.

Es hatten „nur“ rund 300 Eltern den Mut, sich an mich zu wenden und mir von diesem dunklen Kapitel ihres Lebens zu berichten. Wie hoch ist die Dunkelziffer derer, die den Mut nicht hatten?

Wir alle waren nur „Einzelfälle“, unbedeutend, unbequem, unangenehm.  

Über 300 ermordete Kinder und kein Aufschrei der verantwortlichen Politiker, auch nicht von Ihnen, Herr Özdemir! Und jetzt melden Sie sich zu Wort. Jetzt betrifft es Sie plötzlich persönlich, weil es um ihre Tochter geht. Wäre Ihnen diese Erkenntnis früher gekommen und hätten sie etwas unternommen, könnten viele unserer Kinder noch leben.

Mögen Sie eine solche Erfahrung niemals machen müssen!

Mit freundlichen Grüßen

Michael Kyrath, Elmshorn

 

Auch nach dem Attentat von Solingen hat sich dieser Vater, Michael Kyrath, in einem Leserbrief zu Wort gemeldet:

„Ich hätte erwartet, dass sie [N. Faeser] Kontakt zu uns Eltern sucht. Dass sie sich mit uns zusammensetzt und anhört, was der Verlust mit uns macht und was wir fordern. Und was macht Frau Faeser? Sie stellt sich bedauernd an den Bahnsteig und verschwindet gleich wieder Richtung Berlin. … Uns hat sie nicht kondoliert. Sie reagiert nicht und ist auch nicht gesprächsbereit. Das Verhalten ist für uns Eltern schockierend.“