Sonntag. Letzte Woche war ich beruflich in Straßburg.
Erst ein einziges Mal sei ich in Straßburg gewesen, sage ich zu meinem Begleiter. Vor vielen Jahren, kurz vor dem Abi, als mir ein Maler – aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Als ich dann auf dem Platz vor dem Münster stehe, fällt mir schlagartig ein, dass es noch ein zweites Mal gegeben hat. Nämlich meine Hochzeitsreise. Colmar-Straßburg, die Katastrophenreise meines Lebens. Wie kann ich die vergessen haben!
Wieder zurück, suche ich ein Foto heraus. Es zeigt eine sehr schlanke, junge Frau vor dem Hauptportal des Straßburger Münsters in schwarzem Minirock, schwarzen, hohen Stiefeletten, schwarzen Strümpfen, schwarzem Mantel und mit nervig abwesendem Blick wie von einer mächtigen Hand dort abgestellt. Die Frau bin ich. Als ich das Foto sehe, bin ich sofort wieder in diesem Gefühl drin, in dieser mörderischen Anstrengung.
Die Reise bestand zu 98 Prozent aus Streit. Es ging um den Stellenwert anderer Frauen, worum sonst?, konkret ging es darum, wie viele Ex-Freundinnen und welche genau zu unserer kirchlichen Trauung geladen würden. Ich liebe sie alle irgendwie noch! Sie bedeuten mir was, das sollst Du wissen! Wer kann schon Äpfel mit Birnen vergleichen! Was ist schon Liebe!, und so weiter und so weiter.
Die Weisheiten meines frisch Angetrauten brachten mich zur Verzweiflung. Alles war unklar, ungelöst, und genauso, das ahnte ich in diesen Tagen, würde es bleiben: Unklar und ungelöst.
Lass den Anderen im Ungewissen, und du hast die Macht.
Von Straßburg bekam ich nichts mit. Mit Sicherheit haben wir all diese Dinge besichtigt, die man als Kulturmenschen mit Reiseführer im – schwarzen – Handtäschchen eben so besichtigt. Ich musste schön sein, ich hatte zu tun. Schöner, witziger, intelligenter, fürsorglicher, sexyer … als ALLE. Eine irgendwie unlösbare Aufgabe. Ich bin nicht daran zerbrochen, ich habe mich bloß einfach mal zwanzig Jahre lang fremdbestimmen lassen.
Darüber könnte ich heute noch kotzen! Und vielleicht bin ich ja tatsächlich erst ein Mal in Straßburg gewesen. Das Münster, die Ecclesia und die Synagoge (blind und mit verbundenen Augen, bei allem zugrunde liegenden Antisemitismus verfügt die Figur, was mich angeht, über ein hohes Identifikationspotential), die Astronomische Uhr, die Gassen des Gerberviertels, die Brücken und nicht zuletzt die mittelalterlichen Gasthäuser, jetzt SEHE ich das alles. Ich bummle herum in der Wärme der Julisonne und genieße vier Stunden freie Zeit. In einer Boutique kaufe ich mir eine Sommerjeans, blau-weiß gestreift, von Weitem hat sie das Blau des Himmels an diesem Nachmittag. Mit den Verkäuferinnen rede ich Französisch wie ein alter Hase und lasse mir die Farben des kommenden Herbstes verraten:
Royalblau, Pink, Gelb!
Mit der Tüte unterm Arm gehe ich noch einmal ins Münster, um eine Kerze anzuzünden, und zuletzt laufe ich drum herum, an den hochsymbolisch verzierten Portalen vorbei, und jeden Schritt koste ich aus.
Love is in the air, ich bin in Straßburg, und Straßburg ist schön.