Von Künstlern und Bürgern

Den Faust, den Steppenwolf alias Harry Haller und den Anselmus haben wir sowas von gekocht, geknetet und durchs Sieb passiert, dass sie nun allen Beteiligten zu den Ohren herauskommen.

Unauslöschlich die Spuren – die „goldene Spur“? – des drögen Dreiergespanns in hunderttausend baden-württembergischen Abiturientenseelen. Indem wir die Seelenqualen von drei existenzleidenden Protagonisten geschlagene zwei Jahre lang durchleuchtet und nachgelitten haben, wird dem omnipräsenten Goethe, dem selbstanalytischen Hesse und dem albernen Hoffmann („ich war doch die Kaffeekanne“) hunderttausendfach – wenn auch erzwungenermaßen – die Künstlerehre nachgereicht, um die sie alle drei gerungen haben. Um nichts anderes geht es in den drei Werken. Hesse, der – OT – für die junge Abteilung steht, weil es offensichtlich keine zeitgenössischen Autor*innen gibt, die es zu behandeln lohnt, hat mir stellenweise direkt Spaß gemacht, aber um mich geht es nicht. Sondern um 16- und 17-Jährige, die trotz gestrichenem neunten Schuljahr und ungeachtet der Tatsache, dass wir alle neunzig werden, von ihren sorgenden Eltern mit gerademal fünf auf die Schulbank gedrückt und untervolljährig in den Wettkampf des Lebens gekippt werden.
Da sitzen sie dann und sind „verstört“, wenn man ihnen Jonathan Meese als lebendes Beispiel aller Hesse’schen Theorien vorführt. Ich wäre auch verstört gewesen, nicht wg Meese, den hätte ich schon mit siebzehn gut gefunden, wenn es ihn gegeben hätte, sondern weil das Jammern von MidlifeCrisis/Erkenntniskrise-geschüttelten Männern auf hohem Niveau Siebzehnjährigen nicht in den Kopf will – eine Tatsache, über die leitende KuMi-Pädagogen wider alle pädagogischen Erkenntnisse mit verstörender Ignoranz hinwegstiefeln.

Auf die wirklich interessante Frage, wie sich der Künstler (oder die Künstlerin, was es ja auch geben soll) als Bürger bewähren und sich in der bürgerlichen Gesellschaft einen Platz verschaffen kann, finden alle drei letztlich keine Antwort.

Das ist nämlich ein tägliches Suchen und Finden, und einen Generalschlüssel gibt es nicht. Weil auch der Künstler Geld verdienen muss, so einfach ist das, weil nämlich keiner ihm ein Schloss schenkt, wie seinerzeit schon Rilke sehr bedauernd festgestellt hat.

Ungleich stärker stellt sich das Problem für Frauen, für Künstlerinnen. Neben der Kunst und dem Broterwerb haben sie in aller Regel auch noch die Kinder an der Backe – sofern sie sich überhaupt trauen, welche in die Welt zu setzen. Von der Haushaltung will ich hier gar nicht reden. J. W. von Goethe hatte dafür seine Christiane und E.T.A. Hoffmann seine Mischa, während Hermann Hesse nach der Scheidung von seiner ersten Frau Maria Bernoulli die drei gemeinsamen Söhne einfach in der Verwandtschaft verteilte. Um ungestört weiterschreiben zu können. Eine Lebensabschnittsgeschichte, die sich in keiner Zeile seines umfangreichen Werkes widerspiegelt, das doch im Wesentlichen sein eigenes Ich, sein eigenes Handeln, sein eigenes Ver- und Unvermögen zum Thema hat.

Schreiben Frauen über solche Themen Dramen? Oder Romane? Könnte es einen weiblichen Faust geben? Eine mit sich selbst hadernde Faustine, weil sie Kinder, Kunst und Kohle-Verdienen nicht unter einen Hut bringt? Sorry, weil sie ihre Mutterseele, ihre Künstlerinnenseele, ihre Bürgerseele in ihrem Inneren miteinander vereinen möchte? Nicht zu vergessen ihre Geliebtenseele, ihre Kämpferseele, ihre Unternehmerseele … da hat der Hermann schon recht: der Mensch, der besteht „nicht nur aus zwei Seelen, sondern aus hundert, aus Tausenden“. Mit dieser eher schlichten psychoanalytischen Erkenntnis meint er Collega Goethe zu übertrumpfen, was mir ja herzlich egal sein könnte, wenn ich es nicht so strange fände, einen Klassiker, der schon über ein Jahrhundert unter der Erde liegt (von Hesse aus gerechnet), intellektuell auszuknocken.

Aber zurück zu den Frauen. Es gibt sie nicht, die Dramen und Romane von jammernden Künstlerinnen, die ihre verschiedenen Arbeitsbereiche nicht organisiert kriegen. Also auf der Seelenebene jetzt. Was bei Hesse Hunderte von Seiten füllt, findet in der Literaturgeschichte keine weibliche Entsprechung. (Zwar beklagten und beklagen Schriftstellerinnen die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz weiblicher Kunstschaffender, aber das ist ein anderes Thema.) Und warum gibt es sie nicht?

Vielleicht weil, – naja, das würde mich eben echt mal interessieren …